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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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angenommen hat, die von dem ältern Gesetzgeber nicht vorausgesehen werden
konnten. Rein bleibt diese Tragödie nur dann, wenn das Uebel objektiv in der
mangelhaften Gesetzgebung, nicht aber in der Bösartigkeit einzelner Menschen er¬
kannt wird; denn schließlich bleiben sich die Menschen durch alle Zeiten gleich, und
ebenso ihre Selbstsucht. In seiner Parteinahme jedoch für die armen Opfer der
Großindustrie, für die ruinirten Klcingewerbler, wie für die schlecht bezahlten und
schlecht ernährten Fabrikarbeiter hat Kretzer alles sittliche Licht auf diese und alle
Schändlichkeiten auf die Reichen vereinigt. Er läßt seinen spekulativen großindu-
striellen Urban nur durch einen ganz gemeinen Diebstahl der Modelle des Drechsler -
meisters Timpe seine großen Erfolge erringen, und das ist keine glückliche Erfin¬
dung. Die Gestaltung des Meisters Timpe und seines ganzen Familienlebens ist
ihm besser gelungen. In dem achtzigjähriger Gottfried Timpe, in seinem Sohne
Johannes, dem "Meister," und in dem Enkel Franz Timpe hat Kretzer die drei
Berliner Generationen unsers Jahrhunderts gut veranschaulicht. Der Enkel ist
schon ganz ein moderner Streber geworden, der seinen Vater bestiehlt, auf eine
reiche Frau spekulirt, flott lebt, viele Verhältnisse zu käuflichen Mädchen hat und
schließlich der Kompagnon desselben Großindustriellen wird, der den Meister Jo¬
hannes vernichtet. An diesem selbst, dem Typus eines tüchtigen und charaktervoller
Berliner Handwerkers, ist der Konflikt zwischen den zwei großen Motiven der mon¬
archischen Treue und der sozialistischen Unzufriedenheit poetisch der merkwürdigste
Charakterzug. Auf die Schilderung dieses schweren und langjährigen Seelenkampfes
hat Kretzer die meiste Sorgfalt verwendet; dieses neue Motiv ist der wertvollste
dichterische Kern des Romans geworden. Und Timpe bleibt königstreu, bis er
den letzten Atemzug in demselben Feuer aushaucht, das er, um sich selbst zu töten,
angezündet hat. Denn er endet im Selbstmorde aus Verzweiflung über die Schlechtig¬
keit feines Sohnes und der neuen Welt. Wie sich an Franz Timpe das Verbrechen
des Diebstahls beim eignen Vater rächen soll, hat Kretzer als rechter Sittenmaler
auch nicht einmal anzudeuten den Mut gefunden: der Sohn lebt ja noch, er ver¬
tritt die Gegenwart. Noch andre Kompositionsfehler wären anzumerken. So der,
daß Meister Timpe erst sehr spät in den künstlerischen Mittelpunkt des Romanes
tritt, und daß die völlige Vernachlässigung seiner Gegenpartei geradezu verstimmt.
Der Roman hat kein Gleichgewicht. Ebenso werden andre angefangene Fäden ohne
Grund fallen gelassen.




Zur Beachtung.
Mit dem vorliegenden Beste beginnt diese Zeitschrift das 5. Vierteljahr ihres 47. Jahr¬
ganges, welches durch alle Buchhandlungen und postanstalten des In° und Auslandes zu
beziehen ist. Preis für das Vierteljahr g Mark, wir bitten um schleunige Erneuerung
des Abonnements.
Leipzig, im Juni ZS88. ^ , , ^,
Ire Verlagshandlung.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig.
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angenommen hat, die von dem ältern Gesetzgeber nicht vorausgesehen werden
konnten. Rein bleibt diese Tragödie nur dann, wenn das Uebel objektiv in der
mangelhaften Gesetzgebung, nicht aber in der Bösartigkeit einzelner Menschen er¬
kannt wird; denn schließlich bleiben sich die Menschen durch alle Zeiten gleich, und
ebenso ihre Selbstsucht. In seiner Parteinahme jedoch für die armen Opfer der
Großindustrie, für die ruinirten Klcingewerbler, wie für die schlecht bezahlten und
schlecht ernährten Fabrikarbeiter hat Kretzer alles sittliche Licht auf diese und alle
Schändlichkeiten auf die Reichen vereinigt. Er läßt seinen spekulativen großindu-
striellen Urban nur durch einen ganz gemeinen Diebstahl der Modelle des Drechsler -
meisters Timpe seine großen Erfolge erringen, und das ist keine glückliche Erfin¬
dung. Die Gestaltung des Meisters Timpe und seines ganzen Familienlebens ist
ihm besser gelungen. In dem achtzigjähriger Gottfried Timpe, in seinem Sohne
Johannes, dem „Meister," und in dem Enkel Franz Timpe hat Kretzer die drei
Berliner Generationen unsers Jahrhunderts gut veranschaulicht. Der Enkel ist
schon ganz ein moderner Streber geworden, der seinen Vater bestiehlt, auf eine
reiche Frau spekulirt, flott lebt, viele Verhältnisse zu käuflichen Mädchen hat und
schließlich der Kompagnon desselben Großindustriellen wird, der den Meister Jo¬
hannes vernichtet. An diesem selbst, dem Typus eines tüchtigen und charaktervoller
Berliner Handwerkers, ist der Konflikt zwischen den zwei großen Motiven der mon¬
archischen Treue und der sozialistischen Unzufriedenheit poetisch der merkwürdigste
Charakterzug. Auf die Schilderung dieses schweren und langjährigen Seelenkampfes
hat Kretzer die meiste Sorgfalt verwendet; dieses neue Motiv ist der wertvollste
dichterische Kern des Romans geworden. Und Timpe bleibt königstreu, bis er
den letzten Atemzug in demselben Feuer aushaucht, das er, um sich selbst zu töten,
angezündet hat. Denn er endet im Selbstmorde aus Verzweiflung über die Schlechtig¬
keit feines Sohnes und der neuen Welt. Wie sich an Franz Timpe das Verbrechen
des Diebstahls beim eignen Vater rächen soll, hat Kretzer als rechter Sittenmaler
auch nicht einmal anzudeuten den Mut gefunden: der Sohn lebt ja noch, er ver¬
tritt die Gegenwart. Noch andre Kompositionsfehler wären anzumerken. So der,
daß Meister Timpe erst sehr spät in den künstlerischen Mittelpunkt des Romanes
tritt, und daß die völlige Vernachlässigung seiner Gegenpartei geradezu verstimmt.
Der Roman hat kein Gleichgewicht. Ebenso werden andre angefangene Fäden ohne
Grund fallen gelassen.




Zur Beachtung.
Mit dem vorliegenden Beste beginnt diese Zeitschrift das 5. Vierteljahr ihres 47. Jahr¬
ganges, welches durch alle Buchhandlungen und postanstalten des In° und Auslandes zu
beziehen ist. Preis für das Vierteljahr g Mark, wir bitten um schleunige Erneuerung
des Abonnements.
Leipzig, im Juni ZS88. ^ , , ^,
Ire Verlagshandlung.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig.
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[0056] Litteratur. angenommen hat, die von dem ältern Gesetzgeber nicht vorausgesehen werden konnten. Rein bleibt diese Tragödie nur dann, wenn das Uebel objektiv in der mangelhaften Gesetzgebung, nicht aber in der Bösartigkeit einzelner Menschen er¬ kannt wird; denn schließlich bleiben sich die Menschen durch alle Zeiten gleich, und ebenso ihre Selbstsucht. In seiner Parteinahme jedoch für die armen Opfer der Großindustrie, für die ruinirten Klcingewerbler, wie für die schlecht bezahlten und schlecht ernährten Fabrikarbeiter hat Kretzer alles sittliche Licht auf diese und alle Schändlichkeiten auf die Reichen vereinigt. Er läßt seinen spekulativen großindu- striellen Urban nur durch einen ganz gemeinen Diebstahl der Modelle des Drechsler - meisters Timpe seine großen Erfolge erringen, und das ist keine glückliche Erfin¬ dung. Die Gestaltung des Meisters Timpe und seines ganzen Familienlebens ist ihm besser gelungen. In dem achtzigjähriger Gottfried Timpe, in seinem Sohne Johannes, dem „Meister," und in dem Enkel Franz Timpe hat Kretzer die drei Berliner Generationen unsers Jahrhunderts gut veranschaulicht. Der Enkel ist schon ganz ein moderner Streber geworden, der seinen Vater bestiehlt, auf eine reiche Frau spekulirt, flott lebt, viele Verhältnisse zu käuflichen Mädchen hat und schließlich der Kompagnon desselben Großindustriellen wird, der den Meister Jo¬ hannes vernichtet. An diesem selbst, dem Typus eines tüchtigen und charaktervoller Berliner Handwerkers, ist der Konflikt zwischen den zwei großen Motiven der mon¬ archischen Treue und der sozialistischen Unzufriedenheit poetisch der merkwürdigste Charakterzug. Auf die Schilderung dieses schweren und langjährigen Seelenkampfes hat Kretzer die meiste Sorgfalt verwendet; dieses neue Motiv ist der wertvollste dichterische Kern des Romans geworden. Und Timpe bleibt königstreu, bis er den letzten Atemzug in demselben Feuer aushaucht, das er, um sich selbst zu töten, angezündet hat. Denn er endet im Selbstmorde aus Verzweiflung über die Schlechtig¬ keit feines Sohnes und der neuen Welt. Wie sich an Franz Timpe das Verbrechen des Diebstahls beim eignen Vater rächen soll, hat Kretzer als rechter Sittenmaler auch nicht einmal anzudeuten den Mut gefunden: der Sohn lebt ja noch, er ver¬ tritt die Gegenwart. Noch andre Kompositionsfehler wären anzumerken. So der, daß Meister Timpe erst sehr spät in den künstlerischen Mittelpunkt des Romanes tritt, und daß die völlige Vernachlässigung seiner Gegenpartei geradezu verstimmt. Der Roman hat kein Gleichgewicht. Ebenso werden andre angefangene Fäden ohne Grund fallen gelassen. Zur Beachtung. Mit dem vorliegenden Beste beginnt diese Zeitschrift das 5. Vierteljahr ihres 47. Jahr¬ ganges, welches durch alle Buchhandlungen und postanstalten des In° und Auslandes zu beziehen ist. Preis für das Vierteljahr g Mark, wir bitten um schleunige Erneuerung des Abonnements. Leipzig, im Juni ZS88. ^ , , ^, Ire Verlagshandlung. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/56>, abgerufen am 05.05.2024.