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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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wahrhaft beschämt, daß ich durch Sie erst einen unsrer Klassiker kennen lernen
muß." Seltsame Schicksalsironie, daß dieser letzte Klassiker von einer Land¬
schaft sein geliebtes Deutsch als Muttersprache empfangen hat, in der es in
naher Zukunft zu einem kümmerlichen Jargon herabgedrückt, vielleicht mit der
Wurzel ausgerottet sein wird.




Im Jahre 2000

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^G^xcum die Bedeutung eines Buches uach seinen: Erfolge gemessen
werden konnte, so dürfte sich die amerikanische Litteratur rühmen,
wie in den fünfziger Jahren, wo "Onkel Toms Hütte" der Mrs.
Beecher-Stowe das gclesenste und gekaufteste Buch der Erde
war, so auch jetzt den "bedeutendsten" Roman unsrer Tage er¬
zeugt zu haben. Denn es ist doch wohl mehr als Hnmbug, wenn uns versichert
wird, daß von der Phantasie: Im Jahre 2 000. Ein Rückblick auf das Jahr
1887 von Eduard Bellamy in den Vereinigten Staaten allein gegen 300000
Exemplare abgesetzt worden seien. Wie die Dinge liegen, wird jeder Gebildete
und Halbgebildete den genannten Roman oder Halbroman zur Hand nehmen
und aus ihm die Belehrung schöpfen müssen, daß sich der "Dichter" wieder ein¬
mal als Prophet gefühlt hat und über die Gestalt der Welt und das Leben
der Menschheit nach der vollbrachtem großen sozialen Erlösung geweissagt hat.
Seit Jules Verne und seine Nachahmer das Unmögliche und Märchenhafte
mit wissenschaftlichen Stützen versehen haben, ist es ja nicht zu schwer, sich
einen jungen Vvstvner zu denken, der im Jahre 1887 von einem Quacksalber
oder Professor des tierischen Magnetismus in hypnotischen Schlaf versetzt und,
der Legende zum nachträglichen Erweis, nach Verlauf von hundertunddreizehn
Jahren um einem schönen Morgen im Jahre 2000 wissenschaftlich erweckt und
geweckt wird. Er findet eine so völlig verwandelte Welt vor, daß die sieben
Schläfer, Rip van Winkel und wie sie alle heißen mögen, gegen ihn arm an
Überraschungen genannt werden dürfen. Hierdurch erklärt sich auch, daß Mr.
Julian West körperlich die Wiedererweckung umso viel besser übersteht, als seine
sagenhaften Vorgänger. Er wird von den Erscheinungen und Thatsachen einer
so völlig neuen Welt derart in Anspruch genommen, daß er kaum Zeit hat,
an seine eigne Person zu denken. Gegen den Schluß hin wählt er freilich
das beste Mittel der Verjüngung und Lebenserhaltung, indem er eine schöne
Tochter des zwanzigsten Jahrhunderts heiratet.


wahrhaft beschämt, daß ich durch Sie erst einen unsrer Klassiker kennen lernen
muß." Seltsame Schicksalsironie, daß dieser letzte Klassiker von einer Land¬
schaft sein geliebtes Deutsch als Muttersprache empfangen hat, in der es in
naher Zukunft zu einem kümmerlichen Jargon herabgedrückt, vielleicht mit der
Wurzel ausgerottet sein wird.




Im Jahre 2000

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^G^xcum die Bedeutung eines Buches uach seinen: Erfolge gemessen
werden konnte, so dürfte sich die amerikanische Litteratur rühmen,
wie in den fünfziger Jahren, wo „Onkel Toms Hütte" der Mrs.
Beecher-Stowe das gclesenste und gekaufteste Buch der Erde
war, so auch jetzt den „bedeutendsten" Roman unsrer Tage er¬
zeugt zu haben. Denn es ist doch wohl mehr als Hnmbug, wenn uns versichert
wird, daß von der Phantasie: Im Jahre 2 000. Ein Rückblick auf das Jahr
1887 von Eduard Bellamy in den Vereinigten Staaten allein gegen 300000
Exemplare abgesetzt worden seien. Wie die Dinge liegen, wird jeder Gebildete
und Halbgebildete den genannten Roman oder Halbroman zur Hand nehmen
und aus ihm die Belehrung schöpfen müssen, daß sich der „Dichter" wieder ein¬
mal als Prophet gefühlt hat und über die Gestalt der Welt und das Leben
der Menschheit nach der vollbrachtem großen sozialen Erlösung geweissagt hat.
Seit Jules Verne und seine Nachahmer das Unmögliche und Märchenhafte
mit wissenschaftlichen Stützen versehen haben, ist es ja nicht zu schwer, sich
einen jungen Vvstvner zu denken, der im Jahre 1887 von einem Quacksalber
oder Professor des tierischen Magnetismus in hypnotischen Schlaf versetzt und,
der Legende zum nachträglichen Erweis, nach Verlauf von hundertunddreizehn
Jahren um einem schönen Morgen im Jahre 2000 wissenschaftlich erweckt und
geweckt wird. Er findet eine so völlig verwandelte Welt vor, daß die sieben
Schläfer, Rip van Winkel und wie sie alle heißen mögen, gegen ihn arm an
Überraschungen genannt werden dürfen. Hierdurch erklärt sich auch, daß Mr.
Julian West körperlich die Wiedererweckung umso viel besser übersteht, als seine
sagenhaften Vorgänger. Er wird von den Erscheinungen und Thatsachen einer
so völlig neuen Welt derart in Anspruch genommen, daß er kaum Zeit hat,
an seine eigne Person zu denken. Gegen den Schluß hin wählt er freilich
das beste Mittel der Verjüngung und Lebenserhaltung, indem er eine schöne
Tochter des zwanzigsten Jahrhunderts heiratet.


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[0325] wahrhaft beschämt, daß ich durch Sie erst einen unsrer Klassiker kennen lernen muß." Seltsame Schicksalsironie, daß dieser letzte Klassiker von einer Land¬ schaft sein geliebtes Deutsch als Muttersprache empfangen hat, in der es in naher Zukunft zu einem kümmerlichen Jargon herabgedrückt, vielleicht mit der Wurzel ausgerottet sein wird. Im Jahre 2000 L>«Z?^?? ^G^xcum die Bedeutung eines Buches uach seinen: Erfolge gemessen werden konnte, so dürfte sich die amerikanische Litteratur rühmen, wie in den fünfziger Jahren, wo „Onkel Toms Hütte" der Mrs. Beecher-Stowe das gclesenste und gekaufteste Buch der Erde war, so auch jetzt den „bedeutendsten" Roman unsrer Tage er¬ zeugt zu haben. Denn es ist doch wohl mehr als Hnmbug, wenn uns versichert wird, daß von der Phantasie: Im Jahre 2 000. Ein Rückblick auf das Jahr 1887 von Eduard Bellamy in den Vereinigten Staaten allein gegen 300000 Exemplare abgesetzt worden seien. Wie die Dinge liegen, wird jeder Gebildete und Halbgebildete den genannten Roman oder Halbroman zur Hand nehmen und aus ihm die Belehrung schöpfen müssen, daß sich der „Dichter" wieder ein¬ mal als Prophet gefühlt hat und über die Gestalt der Welt und das Leben der Menschheit nach der vollbrachtem großen sozialen Erlösung geweissagt hat. Seit Jules Verne und seine Nachahmer das Unmögliche und Märchenhafte mit wissenschaftlichen Stützen versehen haben, ist es ja nicht zu schwer, sich einen jungen Vvstvner zu denken, der im Jahre 1887 von einem Quacksalber oder Professor des tierischen Magnetismus in hypnotischen Schlaf versetzt und, der Legende zum nachträglichen Erweis, nach Verlauf von hundertunddreizehn Jahren um einem schönen Morgen im Jahre 2000 wissenschaftlich erweckt und geweckt wird. Er findet eine so völlig verwandelte Welt vor, daß die sieben Schläfer, Rip van Winkel und wie sie alle heißen mögen, gegen ihn arm an Überraschungen genannt werden dürfen. Hierdurch erklärt sich auch, daß Mr. Julian West körperlich die Wiedererweckung umso viel besser übersteht, als seine sagenhaften Vorgänger. Er wird von den Erscheinungen und Thatsachen einer so völlig neuen Welt derart in Anspruch genommen, daß er kaum Zeit hat, an seine eigne Person zu denken. Gegen den Schluß hin wählt er freilich das beste Mittel der Verjüngung und Lebenserhaltung, indem er eine schöne Tochter des zwanzigsten Jahrhunderts heiratet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/325>, abgerufen am 28.04.2024.