Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Viktor Hohn

in der Erfassung der Probleme. Sie liegen über dem Horizont der herrschenden
Goethephilologie (wie sich anch gleich darin zeigte, daß ein Adept derselben
öffentlich erklärte, das Buch sei ja wohl geistreich, aber doch sehr Dilettanten-
arbeit). Allerdings ist die Behandlung eine solche, daß dem Titel "Gedanken
über Goethe" der Untertitel Hütte hinzugesetzt werden dürfen: für denkende
Leser. In den der Einleitung folgenden zwei Kapiteln wird gezeigt, wie der
Dichter das Menschenleben ansah, einmal in seinen "Naturformen," den ein¬
fachen, unmittelbaren, den Geist in Notwendigkeit bindenden, das fernste Alter¬
tum mit der nächsten Gegenwart verknüpfenden, dann in seiner Gliederung in
"Stände." Hiernach, wiederum einander ergänzend, die Abschnitte "Natur¬
phantasie" und "Gleichnisse," letzterer mit einer ausgezeichnet schönen Er¬
örterung über die Phantasie und ihren "profanen Grenznachbar" Witz. Ein
zweiter Band war beabsichtigt, ihn auszuführen ist Hehn nicht mehr möglich
geworden. Zwei dafür bestimmte Aufsätze "Einiges über Goethes Vers" und
"Goethe und die Sprache der Bibel" gelangten im Goethejahrbuch zum Ab¬
druck, sonst fanden sich im Nachlaß zwar weitschichtige und wohlgeordnete
Sammlungen, aber nichts Geformtes.

Wir haben das subjektive Element in Hehns Schriften hinlänglich, wie
wir hoffen, ans Licht gestellt. Sollen wir ihn deshalb zu entschuldigen, zu
rechtfertigen versuchen? Nein. Denn es bedeutet nichts andres als Herzcns-
anteil, starken und echten, an den behandelten Gegenständen. Bezeichnend für
den Mann und den Schriftsteller ist es, daß ihn erst die Wahrnehmung, mit
seiner Weltanschauung in Widerstreit zu der anschwellenden Zeitströmung geraten
zu sein, zum Schriftsteller machte, in einem Alter, wo andre die Feder aus
der Hand legen. Er wollte nicht bekehren, nur verteidigen. Unter den Gütern
aber, deren Bedrohung er mit Schmerz und Scham ansah, war vielleicht keines
mit seiner persönlichsten Empfindung so innig verwachsen, wie die deutsche
Sprache: ihn empörte als Kenner, ihn verwundete als Künstler ihr Verfall,
in dem wir schon mitten inne stehen, und der uns Jüngere alle, ob wider¬
strebend oder lässig, mit sich fortreißt. Den ernstlich erwogenen Plan, in
einer eingänglicher sprachwissenschaftlichen Studie dieser Krankheit die Diagnose
zu stellen, hat Hehn schließlich unausgeführt gelassen. Zu den besten Heil¬
mitteln darf das Beispiel, das er selbst als Schriftsteller gab, gezählt werden.
Zwar zu den schöpferischen, verjüngenden Sprachmeistern -- wo giebt es sie
heute? -- gehörte anch Hehn nicht; aber sicherlich hat während des letzten
Halbjährhunderts keiner die sprachliche Erbschaft der Zeit unsrer klassischen
Litteratur so treu gepflegt, mit so aristokratischem Stilgefühl, mit so viel
Sorgfalt und so wenig Ziererei, so streng und anmutig zugleich die
deutsche Prosa gehandhabt, wie er. Ein feinfühliger Kenner, der sein
Urteil auf die Goldwage zu legen gewohnt war, antwortete einem Freunde,
der ihn auf Hehns "Italien" aufmerksam gemacht hatte: "Ich fühle mich


Viktor Hohn

in der Erfassung der Probleme. Sie liegen über dem Horizont der herrschenden
Goethephilologie (wie sich anch gleich darin zeigte, daß ein Adept derselben
öffentlich erklärte, das Buch sei ja wohl geistreich, aber doch sehr Dilettanten-
arbeit). Allerdings ist die Behandlung eine solche, daß dem Titel „Gedanken
über Goethe" der Untertitel Hütte hinzugesetzt werden dürfen: für denkende
Leser. In den der Einleitung folgenden zwei Kapiteln wird gezeigt, wie der
Dichter das Menschenleben ansah, einmal in seinen „Naturformen," den ein¬
fachen, unmittelbaren, den Geist in Notwendigkeit bindenden, das fernste Alter¬
tum mit der nächsten Gegenwart verknüpfenden, dann in seiner Gliederung in
„Stände." Hiernach, wiederum einander ergänzend, die Abschnitte „Natur¬
phantasie" und „Gleichnisse," letzterer mit einer ausgezeichnet schönen Er¬
örterung über die Phantasie und ihren „profanen Grenznachbar" Witz. Ein
zweiter Band war beabsichtigt, ihn auszuführen ist Hehn nicht mehr möglich
geworden. Zwei dafür bestimmte Aufsätze „Einiges über Goethes Vers" und
„Goethe und die Sprache der Bibel" gelangten im Goethejahrbuch zum Ab¬
druck, sonst fanden sich im Nachlaß zwar weitschichtige und wohlgeordnete
Sammlungen, aber nichts Geformtes.

Wir haben das subjektive Element in Hehns Schriften hinlänglich, wie
wir hoffen, ans Licht gestellt. Sollen wir ihn deshalb zu entschuldigen, zu
rechtfertigen versuchen? Nein. Denn es bedeutet nichts andres als Herzcns-
anteil, starken und echten, an den behandelten Gegenständen. Bezeichnend für
den Mann und den Schriftsteller ist es, daß ihn erst die Wahrnehmung, mit
seiner Weltanschauung in Widerstreit zu der anschwellenden Zeitströmung geraten
zu sein, zum Schriftsteller machte, in einem Alter, wo andre die Feder aus
der Hand legen. Er wollte nicht bekehren, nur verteidigen. Unter den Gütern
aber, deren Bedrohung er mit Schmerz und Scham ansah, war vielleicht keines
mit seiner persönlichsten Empfindung so innig verwachsen, wie die deutsche
Sprache: ihn empörte als Kenner, ihn verwundete als Künstler ihr Verfall,
in dem wir schon mitten inne stehen, und der uns Jüngere alle, ob wider¬
strebend oder lässig, mit sich fortreißt. Den ernstlich erwogenen Plan, in
einer eingänglicher sprachwissenschaftlichen Studie dieser Krankheit die Diagnose
zu stellen, hat Hehn schließlich unausgeführt gelassen. Zu den besten Heil¬
mitteln darf das Beispiel, das er selbst als Schriftsteller gab, gezählt werden.
Zwar zu den schöpferischen, verjüngenden Sprachmeistern — wo giebt es sie
heute? — gehörte anch Hehn nicht; aber sicherlich hat während des letzten
Halbjährhunderts keiner die sprachliche Erbschaft der Zeit unsrer klassischen
Litteratur so treu gepflegt, mit so aristokratischem Stilgefühl, mit so viel
Sorgfalt und so wenig Ziererei, so streng und anmutig zugleich die
deutsche Prosa gehandhabt, wie er. Ein feinfühliger Kenner, der sein
Urteil auf die Goldwage zu legen gewohnt war, antwortete einem Freunde,
der ihn auf Hehns „Italien" aufmerksam gemacht hatte: „Ich fühle mich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0324" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208261"/>
          <fw type="header" place="top"> Viktor Hohn</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_888" prev="#ID_887"> in der Erfassung der Probleme. Sie liegen über dem Horizont der herrschenden<lb/>
Goethephilologie (wie sich anch gleich darin zeigte, daß ein Adept derselben<lb/>
öffentlich erklärte, das Buch sei ja wohl geistreich, aber doch sehr Dilettanten-<lb/>
arbeit). Allerdings ist die Behandlung eine solche, daß dem Titel &#x201E;Gedanken<lb/>
über Goethe" der Untertitel Hütte hinzugesetzt werden dürfen: für denkende<lb/>
Leser. In den der Einleitung folgenden zwei Kapiteln wird gezeigt, wie der<lb/>
Dichter das Menschenleben ansah, einmal in seinen &#x201E;Naturformen," den ein¬<lb/>
fachen, unmittelbaren, den Geist in Notwendigkeit bindenden, das fernste Alter¬<lb/>
tum mit der nächsten Gegenwart verknüpfenden, dann in seiner Gliederung in<lb/>
&#x201E;Stände." Hiernach, wiederum einander ergänzend, die Abschnitte &#x201E;Natur¬<lb/>
phantasie" und &#x201E;Gleichnisse," letzterer mit einer ausgezeichnet schönen Er¬<lb/>
örterung über die Phantasie und ihren &#x201E;profanen Grenznachbar" Witz. Ein<lb/>
zweiter Band war beabsichtigt, ihn auszuführen ist Hehn nicht mehr möglich<lb/>
geworden. Zwei dafür bestimmte Aufsätze &#x201E;Einiges über Goethes Vers" und<lb/>
&#x201E;Goethe und die Sprache der Bibel" gelangten im Goethejahrbuch zum Ab¬<lb/>
druck, sonst fanden sich im Nachlaß zwar weitschichtige und wohlgeordnete<lb/>
Sammlungen, aber nichts Geformtes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_889" next="#ID_890"> Wir haben das subjektive Element in Hehns Schriften hinlänglich, wie<lb/>
wir hoffen, ans Licht gestellt. Sollen wir ihn deshalb zu entschuldigen, zu<lb/>
rechtfertigen versuchen? Nein. Denn es bedeutet nichts andres als Herzcns-<lb/>
anteil, starken und echten, an den behandelten Gegenständen. Bezeichnend für<lb/>
den Mann und den Schriftsteller ist es, daß ihn erst die Wahrnehmung, mit<lb/>
seiner Weltanschauung in Widerstreit zu der anschwellenden Zeitströmung geraten<lb/>
zu sein, zum Schriftsteller machte, in einem Alter, wo andre die Feder aus<lb/>
der Hand legen. Er wollte nicht bekehren, nur verteidigen. Unter den Gütern<lb/>
aber, deren Bedrohung er mit Schmerz und Scham ansah, war vielleicht keines<lb/>
mit seiner persönlichsten Empfindung so innig verwachsen, wie die deutsche<lb/>
Sprache: ihn empörte als Kenner, ihn verwundete als Künstler ihr Verfall,<lb/>
in dem wir schon mitten inne stehen, und der uns Jüngere alle, ob wider¬<lb/>
strebend oder lässig, mit sich fortreißt. Den ernstlich erwogenen Plan, in<lb/>
einer eingänglicher sprachwissenschaftlichen Studie dieser Krankheit die Diagnose<lb/>
zu stellen, hat Hehn schließlich unausgeführt gelassen. Zu den besten Heil¬<lb/>
mitteln darf das Beispiel, das er selbst als Schriftsteller gab, gezählt werden.<lb/>
Zwar zu den schöpferischen, verjüngenden Sprachmeistern &#x2014; wo giebt es sie<lb/>
heute? &#x2014; gehörte anch Hehn nicht; aber sicherlich hat während des letzten<lb/>
Halbjährhunderts keiner die sprachliche Erbschaft der Zeit unsrer klassischen<lb/>
Litteratur so treu gepflegt, mit so aristokratischem Stilgefühl, mit so viel<lb/>
Sorgfalt und so wenig Ziererei, so streng und anmutig zugleich die<lb/>
deutsche Prosa gehandhabt, wie er. Ein feinfühliger Kenner, der sein<lb/>
Urteil auf die Goldwage zu legen gewohnt war, antwortete einem Freunde,<lb/>
der ihn auf Hehns &#x201E;Italien" aufmerksam gemacht hatte: &#x201E;Ich fühle mich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0324] Viktor Hohn in der Erfassung der Probleme. Sie liegen über dem Horizont der herrschenden Goethephilologie (wie sich anch gleich darin zeigte, daß ein Adept derselben öffentlich erklärte, das Buch sei ja wohl geistreich, aber doch sehr Dilettanten- arbeit). Allerdings ist die Behandlung eine solche, daß dem Titel „Gedanken über Goethe" der Untertitel Hütte hinzugesetzt werden dürfen: für denkende Leser. In den der Einleitung folgenden zwei Kapiteln wird gezeigt, wie der Dichter das Menschenleben ansah, einmal in seinen „Naturformen," den ein¬ fachen, unmittelbaren, den Geist in Notwendigkeit bindenden, das fernste Alter¬ tum mit der nächsten Gegenwart verknüpfenden, dann in seiner Gliederung in „Stände." Hiernach, wiederum einander ergänzend, die Abschnitte „Natur¬ phantasie" und „Gleichnisse," letzterer mit einer ausgezeichnet schönen Er¬ örterung über die Phantasie und ihren „profanen Grenznachbar" Witz. Ein zweiter Band war beabsichtigt, ihn auszuführen ist Hehn nicht mehr möglich geworden. Zwei dafür bestimmte Aufsätze „Einiges über Goethes Vers" und „Goethe und die Sprache der Bibel" gelangten im Goethejahrbuch zum Ab¬ druck, sonst fanden sich im Nachlaß zwar weitschichtige und wohlgeordnete Sammlungen, aber nichts Geformtes. Wir haben das subjektive Element in Hehns Schriften hinlänglich, wie wir hoffen, ans Licht gestellt. Sollen wir ihn deshalb zu entschuldigen, zu rechtfertigen versuchen? Nein. Denn es bedeutet nichts andres als Herzcns- anteil, starken und echten, an den behandelten Gegenständen. Bezeichnend für den Mann und den Schriftsteller ist es, daß ihn erst die Wahrnehmung, mit seiner Weltanschauung in Widerstreit zu der anschwellenden Zeitströmung geraten zu sein, zum Schriftsteller machte, in einem Alter, wo andre die Feder aus der Hand legen. Er wollte nicht bekehren, nur verteidigen. Unter den Gütern aber, deren Bedrohung er mit Schmerz und Scham ansah, war vielleicht keines mit seiner persönlichsten Empfindung so innig verwachsen, wie die deutsche Sprache: ihn empörte als Kenner, ihn verwundete als Künstler ihr Verfall, in dem wir schon mitten inne stehen, und der uns Jüngere alle, ob wider¬ strebend oder lässig, mit sich fortreißt. Den ernstlich erwogenen Plan, in einer eingänglicher sprachwissenschaftlichen Studie dieser Krankheit die Diagnose zu stellen, hat Hehn schließlich unausgeführt gelassen. Zu den besten Heil¬ mitteln darf das Beispiel, das er selbst als Schriftsteller gab, gezählt werden. Zwar zu den schöpferischen, verjüngenden Sprachmeistern — wo giebt es sie heute? — gehörte anch Hehn nicht; aber sicherlich hat während des letzten Halbjährhunderts keiner die sprachliche Erbschaft der Zeit unsrer klassischen Litteratur so treu gepflegt, mit so aristokratischem Stilgefühl, mit so viel Sorgfalt und so wenig Ziererei, so streng und anmutig zugleich die deutsche Prosa gehandhabt, wie er. Ein feinfühliger Kenner, der sein Urteil auf die Goldwage zu legen gewohnt war, antwortete einem Freunde, der ihn auf Hehns „Italien" aufmerksam gemacht hatte: „Ich fühle mich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/324
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/324>, abgerufen am 11.05.2024.