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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialdemokratie und das Theater

habe. Doch wie gesagt, da sich Bellamy mit der allgemeinen Versicherung
einer eben so großen ethischen, als sozialpolitischen Verbesserung der Menschheit
begnügt, und Doktor Leete geradezu sagt, der Gebildete unsrer Tage habe
einem Manne geglichen, der mit einem Riechfläschchen in der Hand bis an
den Hals in einem stinkenden Sumpfe saß, mich versichert, daß im Jahre 2000
alle fähig geworden sind zum Genuß wie zum Verständnis, in verschiednen
Abstufungen zwar, aber doch innerhalb einer bestimmten Grenze der Annehm¬
lichkeiten eines verfeinerten sozialen Lebens, und sogar den Trumpf aus¬
spielt, "eine Generntion der gegenwärtige:! Welt biete unendlich mehr intel¬
lektuelle Erschein"ngen, als fünf Jahrhunderte der Vergangenheit," so kann
der in unsre engen Schranken gebannte nichts anders als schweigen.

So bleibt schließlich noch die Kritik der Kritik, die in Bellamhs Helltraum
an unsern Zuständen, Gewohnheiten und Anschauungen geübt wird. Daß sie
in ihrer unbarmherzigen Schärfe ein gutes Stück Wahrheit einschließt, daß
der wahnsinnige Kampf aller gegen alle, zu dein man unsre Kultur teils ge¬
steigert hat, teils zu steigern sucht, Empfindungen erzeugen muß, wie sie
Bellamhs Buch durchhaucheu, daß heillose Verhältnisse eine tiefe Sehnsucht
nach dem Heil erwecken müssen, wer wagt es heute noch zu leugnen? Daß
aber der Ruf des römischen Pöbels Z?Airsin se, oirosusös, der nach Bellamhs
Buch "heutzutage als etwas ganz Vernünftiges angesehen wird," in der That
die einzige Heilsbotschaft der Zukunft sein werde, darf man selbst am Schlüsse
des neunzehnten Jahrhunderts noch in Zweifel ziehen und bessere Hoffnungen
hegen.




Die ^ozialdemokratie und das Theater

it n einer Besprechung der akademischen Kunstausstellung in Berlin
! in Ur. 31 der Grenzboten hat der Verfasser beiläufig die Ver¬
suche gestreift, die in der Reichshauptstadt von einigen Bühnen¬
leitern gemacht worden sind, das Interesse der Sozialdemo-
!! traten für das Theater durch ein ihren politischen Neigungen
entsprechendes Repertoire wachzurufen und rege zu erhalten. Diese Versuche
find gescheitert, weil die Sozialdemokratie grundsätzlich alles ablehnt, was ihr
von der "Bourgeoisie" entgegengebracht wird. Inzwischen hat sie selbst in der
Theaterfrage die Initiative ergriffen und nach einer am 29. Juli abgehaltenen


Die Sozialdemokratie und das Theater

habe. Doch wie gesagt, da sich Bellamy mit der allgemeinen Versicherung
einer eben so großen ethischen, als sozialpolitischen Verbesserung der Menschheit
begnügt, und Doktor Leete geradezu sagt, der Gebildete unsrer Tage habe
einem Manne geglichen, der mit einem Riechfläschchen in der Hand bis an
den Hals in einem stinkenden Sumpfe saß, mich versichert, daß im Jahre 2000
alle fähig geworden sind zum Genuß wie zum Verständnis, in verschiednen
Abstufungen zwar, aber doch innerhalb einer bestimmten Grenze der Annehm¬
lichkeiten eines verfeinerten sozialen Lebens, und sogar den Trumpf aus¬
spielt, „eine Generntion der gegenwärtige:! Welt biete unendlich mehr intel¬
lektuelle Erschein»ngen, als fünf Jahrhunderte der Vergangenheit," so kann
der in unsre engen Schranken gebannte nichts anders als schweigen.

So bleibt schließlich noch die Kritik der Kritik, die in Bellamhs Helltraum
an unsern Zuständen, Gewohnheiten und Anschauungen geübt wird. Daß sie
in ihrer unbarmherzigen Schärfe ein gutes Stück Wahrheit einschließt, daß
der wahnsinnige Kampf aller gegen alle, zu dein man unsre Kultur teils ge¬
steigert hat, teils zu steigern sucht, Empfindungen erzeugen muß, wie sie
Bellamhs Buch durchhaucheu, daß heillose Verhältnisse eine tiefe Sehnsucht
nach dem Heil erwecken müssen, wer wagt es heute noch zu leugnen? Daß
aber der Ruf des römischen Pöbels Z?Airsin se, oirosusös, der nach Bellamhs
Buch „heutzutage als etwas ganz Vernünftiges angesehen wird," in der That
die einzige Heilsbotschaft der Zukunft sein werde, darf man selbst am Schlüsse
des neunzehnten Jahrhunderts noch in Zweifel ziehen und bessere Hoffnungen
hegen.




Die ^ozialdemokratie und das Theater

it n einer Besprechung der akademischen Kunstausstellung in Berlin
! in Ur. 31 der Grenzboten hat der Verfasser beiläufig die Ver¬
suche gestreift, die in der Reichshauptstadt von einigen Bühnen¬
leitern gemacht worden sind, das Interesse der Sozialdemo-
!! traten für das Theater durch ein ihren politischen Neigungen
entsprechendes Repertoire wachzurufen und rege zu erhalten. Diese Versuche
find gescheitert, weil die Sozialdemokratie grundsätzlich alles ablehnt, was ihr
von der „Bourgeoisie" entgegengebracht wird. Inzwischen hat sie selbst in der
Theaterfrage die Initiative ergriffen und nach einer am 29. Juli abgehaltenen


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[0330] Die Sozialdemokratie und das Theater habe. Doch wie gesagt, da sich Bellamy mit der allgemeinen Versicherung einer eben so großen ethischen, als sozialpolitischen Verbesserung der Menschheit begnügt, und Doktor Leete geradezu sagt, der Gebildete unsrer Tage habe einem Manne geglichen, der mit einem Riechfläschchen in der Hand bis an den Hals in einem stinkenden Sumpfe saß, mich versichert, daß im Jahre 2000 alle fähig geworden sind zum Genuß wie zum Verständnis, in verschiednen Abstufungen zwar, aber doch innerhalb einer bestimmten Grenze der Annehm¬ lichkeiten eines verfeinerten sozialen Lebens, und sogar den Trumpf aus¬ spielt, „eine Generntion der gegenwärtige:! Welt biete unendlich mehr intel¬ lektuelle Erschein»ngen, als fünf Jahrhunderte der Vergangenheit," so kann der in unsre engen Schranken gebannte nichts anders als schweigen. So bleibt schließlich noch die Kritik der Kritik, die in Bellamhs Helltraum an unsern Zuständen, Gewohnheiten und Anschauungen geübt wird. Daß sie in ihrer unbarmherzigen Schärfe ein gutes Stück Wahrheit einschließt, daß der wahnsinnige Kampf aller gegen alle, zu dein man unsre Kultur teils ge¬ steigert hat, teils zu steigern sucht, Empfindungen erzeugen muß, wie sie Bellamhs Buch durchhaucheu, daß heillose Verhältnisse eine tiefe Sehnsucht nach dem Heil erwecken müssen, wer wagt es heute noch zu leugnen? Daß aber der Ruf des römischen Pöbels Z?Airsin se, oirosusös, der nach Bellamhs Buch „heutzutage als etwas ganz Vernünftiges angesehen wird," in der That die einzige Heilsbotschaft der Zukunft sein werde, darf man selbst am Schlüsse des neunzehnten Jahrhunderts noch in Zweifel ziehen und bessere Hoffnungen hegen. Die ^ozialdemokratie und das Theater it n einer Besprechung der akademischen Kunstausstellung in Berlin ! in Ur. 31 der Grenzboten hat der Verfasser beiläufig die Ver¬ suche gestreift, die in der Reichshauptstadt von einigen Bühnen¬ leitern gemacht worden sind, das Interesse der Sozialdemo- !! traten für das Theater durch ein ihren politischen Neigungen entsprechendes Repertoire wachzurufen und rege zu erhalten. Diese Versuche find gescheitert, weil die Sozialdemokratie grundsätzlich alles ablehnt, was ihr von der „Bourgeoisie" entgegengebracht wird. Inzwischen hat sie selbst in der Theaterfrage die Initiative ergriffen und nach einer am 29. Juli abgehaltenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/330>, abgerufen am 28.04.2024.