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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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angefangen hat, sich dem Bilde entgegen zu entwickeln, welches in ihres sseiuesj
Schöpfers Geiste lebt, und jede Generation muß jetzt ein Schritt aufwärts sei,:."

Aus dieser Voraussetzung allein kann das Traumbild von einem Weltalter
geboren werden, worin die ungeheure Regsamkeit der Großindustrie unsrer
Tage und die Blüte Griechenlands vereint sind. Die Möglichkeit einer auf
alle gleichmäßig verteilten Bildung und gleicher Ergebnisse dieser Bildung müßte
dem Zustande vorangehen, wo in der Kunst wie in der Litteratur das
Volk der alleinige Richter ist, über die Annahme von Statuen und Gemälden,
über die Befreiung der Künstler und Schriftsteller vom Ackerbau, von der Auf¬
wartung in den öffentlichen Speisehäusern oder irgend welchem Jndustriedienst
entscheidet. Wir, die wir tagtäglich erleben, daß selbst unsre höchsten Vildungs-
anstalteu nicht imstande sind, eine ungefähre Gleichheit der Herzens- und
Geschmacksbildung hervorzubringen, daß das Bestehen der gleichen Prüfungen
nicht davor Schutze, daß der eine unter uus ein geistig lebendiger, ein schöpferischer
Mensch und der andre ein dürftiger Bewahrer dürftiger Überlieferung ist, die
wir wissen, daß der gepriesenste Techniker, Verwaltnngsmaun oder Nativnal-
ökonvm, trotz Gymnasium und Hochschule, ein trauriger Banause auf allen
Gebieten des Schönen und ein roher Bursche im Reiche der menschlichen
Empfindung sein kann, vernehmen die tröstliche Votschaft zunächst noch ohne
Glauben. Wir fürchten, daß Jean Jacques Rousseau von Genf, der als die
Voraussetzung der gewünschten Gleichheit eine gewisse Verbauerung, ein Zurück¬
sinken in die dürftigsten Anfänge der menschlichen Kultur erachtete, um ein
gut Teil ehrlicher war, als die sozialistischen Propheten unsrer Tage, die das
Jahr 1900 oder 2000 als den Beginn des tausendjährigen Reiches darstellen.
Wir wollen deshalb kein allzu großes Gewicht ans die Widersprüche legen,
die sich natürlich auch in Vellamhs Roman finden. Den" wenn uns erzählt
wird, daß "nicht alle, auch nicht der größere Teil ihre letzte Lebenshälfte litte¬
rarischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Interessen, für welche Muße das
Wertvollste ist, sondern Reisen, geselligem Verkehr im Kreise befreundeter
Altersgenossen, persönlichen Liebhabereien und dem ungestörten Genuß der
guten Dinge dieser Welt" widmen, so liegt die Frage nahe, ob diese durchaus
ehrenwerten Herren und Damen auch mit darüber entscheiden, ob ein Thor-
waldsen der Zukunft Ziegel streichen oder ein Brahms des einundzwanzigsten
Jahrhunderts den Schmiedehammer führen muß. Und wenn wir lesen, daß,
welche sonstigen Änderungen die Sinnesart der Männer und Frauen auch mit
der Zeit erfahren haben möge, ihre Anziehungskraft auf einander unverändert
geblieben, und daß die Leere, die das Fehlen jeglicher Sorgen für jemandes
Leben in dein Gemüte der Männer und Frauen gelassen hat, vollständig durch
die Liebe ausgefüllt worden sei, so möchten wir fragen, ob am Ende des
zwanzigsten Jahrhunderts jedermann mit seiner eignen Frau völlig befriedigt
gewesen sei und niemand mehr seines Nächsten Weib oder Tochter begehrt


Grenzboten 111 1390 4r
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angefangen hat, sich dem Bilde entgegen zu entwickeln, welches in ihres sseiuesj
Schöpfers Geiste lebt, und jede Generation muß jetzt ein Schritt aufwärts sei,:."

Aus dieser Voraussetzung allein kann das Traumbild von einem Weltalter
geboren werden, worin die ungeheure Regsamkeit der Großindustrie unsrer
Tage und die Blüte Griechenlands vereint sind. Die Möglichkeit einer auf
alle gleichmäßig verteilten Bildung und gleicher Ergebnisse dieser Bildung müßte
dem Zustande vorangehen, wo in der Kunst wie in der Litteratur das
Volk der alleinige Richter ist, über die Annahme von Statuen und Gemälden,
über die Befreiung der Künstler und Schriftsteller vom Ackerbau, von der Auf¬
wartung in den öffentlichen Speisehäusern oder irgend welchem Jndustriedienst
entscheidet. Wir, die wir tagtäglich erleben, daß selbst unsre höchsten Vildungs-
anstalteu nicht imstande sind, eine ungefähre Gleichheit der Herzens- und
Geschmacksbildung hervorzubringen, daß das Bestehen der gleichen Prüfungen
nicht davor Schutze, daß der eine unter uus ein geistig lebendiger, ein schöpferischer
Mensch und der andre ein dürftiger Bewahrer dürftiger Überlieferung ist, die
wir wissen, daß der gepriesenste Techniker, Verwaltnngsmaun oder Nativnal-
ökonvm, trotz Gymnasium und Hochschule, ein trauriger Banause auf allen
Gebieten des Schönen und ein roher Bursche im Reiche der menschlichen
Empfindung sein kann, vernehmen die tröstliche Votschaft zunächst noch ohne
Glauben. Wir fürchten, daß Jean Jacques Rousseau von Genf, der als die
Voraussetzung der gewünschten Gleichheit eine gewisse Verbauerung, ein Zurück¬
sinken in die dürftigsten Anfänge der menschlichen Kultur erachtete, um ein
gut Teil ehrlicher war, als die sozialistischen Propheten unsrer Tage, die das
Jahr 1900 oder 2000 als den Beginn des tausendjährigen Reiches darstellen.
Wir wollen deshalb kein allzu großes Gewicht ans die Widersprüche legen,
die sich natürlich auch in Vellamhs Roman finden. Den» wenn uns erzählt
wird, daß „nicht alle, auch nicht der größere Teil ihre letzte Lebenshälfte litte¬
rarischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Interessen, für welche Muße das
Wertvollste ist, sondern Reisen, geselligem Verkehr im Kreise befreundeter
Altersgenossen, persönlichen Liebhabereien und dem ungestörten Genuß der
guten Dinge dieser Welt" widmen, so liegt die Frage nahe, ob diese durchaus
ehrenwerten Herren und Damen auch mit darüber entscheiden, ob ein Thor-
waldsen der Zukunft Ziegel streichen oder ein Brahms des einundzwanzigsten
Jahrhunderts den Schmiedehammer führen muß. Und wenn wir lesen, daß,
welche sonstigen Änderungen die Sinnesart der Männer und Frauen auch mit
der Zeit erfahren haben möge, ihre Anziehungskraft auf einander unverändert
geblieben, und daß die Leere, die das Fehlen jeglicher Sorgen für jemandes
Leben in dein Gemüte der Männer und Frauen gelassen hat, vollständig durch
die Liebe ausgefüllt worden sei, so möchten wir fragen, ob am Ende des
zwanzigsten Jahrhunderts jedermann mit seiner eignen Frau völlig befriedigt
gewesen sei und niemand mehr seines Nächsten Weib oder Tochter begehrt


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[0329] Im I"hre 2000 angefangen hat, sich dem Bilde entgegen zu entwickeln, welches in ihres sseiuesj Schöpfers Geiste lebt, und jede Generation muß jetzt ein Schritt aufwärts sei,:." Aus dieser Voraussetzung allein kann das Traumbild von einem Weltalter geboren werden, worin die ungeheure Regsamkeit der Großindustrie unsrer Tage und die Blüte Griechenlands vereint sind. Die Möglichkeit einer auf alle gleichmäßig verteilten Bildung und gleicher Ergebnisse dieser Bildung müßte dem Zustande vorangehen, wo in der Kunst wie in der Litteratur das Volk der alleinige Richter ist, über die Annahme von Statuen und Gemälden, über die Befreiung der Künstler und Schriftsteller vom Ackerbau, von der Auf¬ wartung in den öffentlichen Speisehäusern oder irgend welchem Jndustriedienst entscheidet. Wir, die wir tagtäglich erleben, daß selbst unsre höchsten Vildungs- anstalteu nicht imstande sind, eine ungefähre Gleichheit der Herzens- und Geschmacksbildung hervorzubringen, daß das Bestehen der gleichen Prüfungen nicht davor Schutze, daß der eine unter uus ein geistig lebendiger, ein schöpferischer Mensch und der andre ein dürftiger Bewahrer dürftiger Überlieferung ist, die wir wissen, daß der gepriesenste Techniker, Verwaltnngsmaun oder Nativnal- ökonvm, trotz Gymnasium und Hochschule, ein trauriger Banause auf allen Gebieten des Schönen und ein roher Bursche im Reiche der menschlichen Empfindung sein kann, vernehmen die tröstliche Votschaft zunächst noch ohne Glauben. Wir fürchten, daß Jean Jacques Rousseau von Genf, der als die Voraussetzung der gewünschten Gleichheit eine gewisse Verbauerung, ein Zurück¬ sinken in die dürftigsten Anfänge der menschlichen Kultur erachtete, um ein gut Teil ehrlicher war, als die sozialistischen Propheten unsrer Tage, die das Jahr 1900 oder 2000 als den Beginn des tausendjährigen Reiches darstellen. Wir wollen deshalb kein allzu großes Gewicht ans die Widersprüche legen, die sich natürlich auch in Vellamhs Roman finden. Den» wenn uns erzählt wird, daß „nicht alle, auch nicht der größere Teil ihre letzte Lebenshälfte litte¬ rarischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Interessen, für welche Muße das Wertvollste ist, sondern Reisen, geselligem Verkehr im Kreise befreundeter Altersgenossen, persönlichen Liebhabereien und dem ungestörten Genuß der guten Dinge dieser Welt" widmen, so liegt die Frage nahe, ob diese durchaus ehrenwerten Herren und Damen auch mit darüber entscheiden, ob ein Thor- waldsen der Zukunft Ziegel streichen oder ein Brahms des einundzwanzigsten Jahrhunderts den Schmiedehammer führen muß. Und wenn wir lesen, daß, welche sonstigen Änderungen die Sinnesart der Männer und Frauen auch mit der Zeit erfahren haben möge, ihre Anziehungskraft auf einander unverändert geblieben, und daß die Leere, die das Fehlen jeglicher Sorgen für jemandes Leben in dein Gemüte der Männer und Frauen gelassen hat, vollständig durch die Liebe ausgefüllt worden sei, so möchten wir fragen, ob am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts jedermann mit seiner eignen Frau völlig befriedigt gewesen sei und niemand mehr seines Nächsten Weib oder Tochter begehrt Grenzboten 111 1390 4r

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/329>, abgerufen am 13.05.2024.