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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Wegfall des Sozialistengesetzes

it dem 1. Oktober tritt das Svzicilistengesetz außer Kraft. Die
Sozialdemokratie bereitet sich schon vor, ihre frühere Stellung
,,0oll und ganz" wieder einzunehmen und ihre agitatorische
Thätigkeit mit der durch die vergrößerte Zahl ihrer Anhänger
!und durch die lauge Zurückhaltung gesteigerten Kraft neu zu
beginnen. Anderseits hat der preußische Minister des Innern die Anordnung
getroffen, daß mit allen gesetzlich zulässigen Mitteln etwaigen Ausschreitungen
der Sozialdemokratie entgegengetreten werden soll, und mau darf Wohl an¬
nehmen, daß ähnliche Anordnungen anch in andern deutschen Ländern ergehen
werden. Wir werden hiernach erfahren, was mit beiden gegen einander
wirkenden Kräften auszurichten ist; ein Schauspiel, das man interessant nennen
konnte, wenn nicht dabei so viel auf dem Spiele stünde.

Unsre zur Zeit bestehende, den Vvlksrechten ein ziemlich großes Maß
freier Bewegung gestattende Gesetzgebung beruht auf den liberalen Bestrebungen
der Jahre vor 1848. In engherzigster Weise waren damals alle Volksrechte
durch ein fast schrankenloses Prohibitivshstem unterdrückt. Dem gegenüber
hatten jene Bestrebungen volle Berechtigung. Nach dem kurzen Überwallen
des Jahres 1848 und nach der darauf folgenden, nicht sehr langen Neaktions-
perivde traten dann nach und nach die Gesetze ins Leben, die im wesentlichen
dein Liberalismus jener frühern Zeit entsprachen. Namentlich ist die Gesetz¬
gebung ans den ersten Jahren des deutschen Reiches ganz von diesem Geist
erfüllt. Niemand aber dachte bei jenen Bestrebungen an die Möglichkeit, daß
in Deutschland eine nach Millionen zählende Partei entstehen könne, die nichts
Geringeres auf ihre Fahne schriebe, als einen Umsturz der ganzen gesellschaft¬
lichen Ordnung. Alle damals in Deutschland thätigen Parteien standen auf
dem Boden des bestehenden Gesellschaftsrechts. Nur auf dieser Grundlage


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Der Wegfall des Sozialistengesetzes

it dem 1. Oktober tritt das Svzicilistengesetz außer Kraft. Die
Sozialdemokratie bereitet sich schon vor, ihre frühere Stellung
,,0oll und ganz" wieder einzunehmen und ihre agitatorische
Thätigkeit mit der durch die vergrößerte Zahl ihrer Anhänger
!und durch die lauge Zurückhaltung gesteigerten Kraft neu zu
beginnen. Anderseits hat der preußische Minister des Innern die Anordnung
getroffen, daß mit allen gesetzlich zulässigen Mitteln etwaigen Ausschreitungen
der Sozialdemokratie entgegengetreten werden soll, und mau darf Wohl an¬
nehmen, daß ähnliche Anordnungen anch in andern deutschen Ländern ergehen
werden. Wir werden hiernach erfahren, was mit beiden gegen einander
wirkenden Kräften auszurichten ist; ein Schauspiel, das man interessant nennen
konnte, wenn nicht dabei so viel auf dem Spiele stünde.

Unsre zur Zeit bestehende, den Vvlksrechten ein ziemlich großes Maß
freier Bewegung gestattende Gesetzgebung beruht auf den liberalen Bestrebungen
der Jahre vor 1848. In engherzigster Weise waren damals alle Volksrechte
durch ein fast schrankenloses Prohibitivshstem unterdrückt. Dem gegenüber
hatten jene Bestrebungen volle Berechtigung. Nach dem kurzen Überwallen
des Jahres 1848 und nach der darauf folgenden, nicht sehr langen Neaktions-
perivde traten dann nach und nach die Gesetze ins Leben, die im wesentlichen
dein Liberalismus jener frühern Zeit entsprachen. Namentlich ist die Gesetz¬
gebung ans den ersten Jahren des deutschen Reiches ganz von diesem Geist
erfüllt. Niemand aber dachte bei jenen Bestrebungen an die Möglichkeit, daß
in Deutschland eine nach Millionen zählende Partei entstehen könne, die nichts
Geringeres auf ihre Fahne schriebe, als einen Umsturz der ganzen gesellschaft¬
lichen Ordnung. Alle damals in Deutschland thätigen Parteien standen auf
dem Boden des bestehenden Gesellschaftsrechts. Nur auf dieser Grundlage


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[0345] [Abbildung] Der Wegfall des Sozialistengesetzes it dem 1. Oktober tritt das Svzicilistengesetz außer Kraft. Die Sozialdemokratie bereitet sich schon vor, ihre frühere Stellung ,,0oll und ganz" wieder einzunehmen und ihre agitatorische Thätigkeit mit der durch die vergrößerte Zahl ihrer Anhänger !und durch die lauge Zurückhaltung gesteigerten Kraft neu zu beginnen. Anderseits hat der preußische Minister des Innern die Anordnung getroffen, daß mit allen gesetzlich zulässigen Mitteln etwaigen Ausschreitungen der Sozialdemokratie entgegengetreten werden soll, und mau darf Wohl an¬ nehmen, daß ähnliche Anordnungen anch in andern deutschen Ländern ergehen werden. Wir werden hiernach erfahren, was mit beiden gegen einander wirkenden Kräften auszurichten ist; ein Schauspiel, das man interessant nennen konnte, wenn nicht dabei so viel auf dem Spiele stünde. Unsre zur Zeit bestehende, den Vvlksrechten ein ziemlich großes Maß freier Bewegung gestattende Gesetzgebung beruht auf den liberalen Bestrebungen der Jahre vor 1848. In engherzigster Weise waren damals alle Volksrechte durch ein fast schrankenloses Prohibitivshstem unterdrückt. Dem gegenüber hatten jene Bestrebungen volle Berechtigung. Nach dem kurzen Überwallen des Jahres 1848 und nach der darauf folgenden, nicht sehr langen Neaktions- perivde traten dann nach und nach die Gesetze ins Leben, die im wesentlichen dein Liberalismus jener frühern Zeit entsprachen. Namentlich ist die Gesetz¬ gebung ans den ersten Jahren des deutschen Reiches ganz von diesem Geist erfüllt. Niemand aber dachte bei jenen Bestrebungen an die Möglichkeit, daß in Deutschland eine nach Millionen zählende Partei entstehen könne, die nichts Geringeres auf ihre Fahne schriebe, als einen Umsturz der ganzen gesellschaft¬ lichen Ordnung. Alle damals in Deutschland thätigen Parteien standen auf dem Boden des bestehenden Gesellschaftsrechts. Nur auf dieser Grundlage Grenzboten 111 1L90 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/345>, abgerufen am 28.04.2024.