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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

es nun zu hart, wenn unsre Biertrinker sich je den zehnten Schoppen versagten,
um dessen Preis dein Reiche zuzuwenden? Es ist ja nicht schwer zu erkennen,
weshalb eine höhere Besteuerung des Bieres bisher uicht gelungen ist. Es
ist nur schwer, offen darüber zu reden.

Wollte unsre Staatsweisheit sich dahin richten, das Shstei" der indirekten
Steuern sachgemäß auszubilden, so würde man eine so verletzende Steuer, wie
die Erbschaftssteuer in ihrer Anwendung auf Kinder, Eltern und Ehegatten
ist, füglich entbehren tonnen.




Giebt es einen sittlichen Fortschritt,
und worin besteht er?
2

erfolgen Nur den Wandel der Sittlichkeit in der Zeit, so finden
wir einerseits immer reichere Entfaltung ursprünglicher Gefühle,
anderseits Hin- und Herschwingen dieser Gefühle um einen Gleich-
gewichtspnnkt und gleichmäßig fortschreitende Verfeinerung und
Verzweigung der sittliche" wie der unsittlichen Gefühle und ihrer
Äußerungen. Fassen wir die gleichzeitigen sittlichen Erscheinungen eines Volkes
oder der ganzen Menschheit ins Auge, so bemerken wir eine große Mannich-
faltigkeit verschiedner, ja einander widersprechender sittlicher Grundformen:
Persönlicher, Berufs- und Völkertypen.

Den persönlichen liegen die Temperamente zu Grunde. Sehr Sittenstrenge
Menschen zeichnen sich selten durch Barmherzigkeit aus, und gütige Naturen
sind oft ein wenig liederlich. Tüchtigen Hausfrauen muß man aus dem Wege
gehen, wenn sie gerade bei der großen Reinigung oder mit der Zurüstung zu
einem Festmahl beschäftigt sind, weil ihnen da leicht irgend ein unästhetischer
oder harter Gegenstand aus der Hand und dem Störer an den Kopf fliegt,
Frauen von himmlischer Sanftmut hingegen sind nicht selten Schlampen und
machen den Mann mit angebrannten Suppen krank.

Daß sich eines nicht für alle schicke, gilt nirgends unbedingter als bei
den verschiednen Berufsständen. Der Aristokrat darf kein Pfennigfuchser sein,
der Handelsmann muß es sein. Umgekehrt muß der Aristokrat, namentlich
wenn er Offizier ist, gegen die leiseste Verletzung seiner Ehre empfindlich sein,
wahrend der Handelsmann sein Geschäft und die Existenz seiner Familie ge¬
fährden würde, wenn er sich nicht so manches kränkende Wort, so manche


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

es nun zu hart, wenn unsre Biertrinker sich je den zehnten Schoppen versagten,
um dessen Preis dein Reiche zuzuwenden? Es ist ja nicht schwer zu erkennen,
weshalb eine höhere Besteuerung des Bieres bisher uicht gelungen ist. Es
ist nur schwer, offen darüber zu reden.

Wollte unsre Staatsweisheit sich dahin richten, das Shstei» der indirekten
Steuern sachgemäß auszubilden, so würde man eine so verletzende Steuer, wie
die Erbschaftssteuer in ihrer Anwendung auf Kinder, Eltern und Ehegatten
ist, füglich entbehren tonnen.




Giebt es einen sittlichen Fortschritt,
und worin besteht er?
2

erfolgen Nur den Wandel der Sittlichkeit in der Zeit, so finden
wir einerseits immer reichere Entfaltung ursprünglicher Gefühle,
anderseits Hin- und Herschwingen dieser Gefühle um einen Gleich-
gewichtspnnkt und gleichmäßig fortschreitende Verfeinerung und
Verzweigung der sittliche» wie der unsittlichen Gefühle und ihrer
Äußerungen. Fassen wir die gleichzeitigen sittlichen Erscheinungen eines Volkes
oder der ganzen Menschheit ins Auge, so bemerken wir eine große Mannich-
faltigkeit verschiedner, ja einander widersprechender sittlicher Grundformen:
Persönlicher, Berufs- und Völkertypen.

Den persönlichen liegen die Temperamente zu Grunde. Sehr Sittenstrenge
Menschen zeichnen sich selten durch Barmherzigkeit aus, und gütige Naturen
sind oft ein wenig liederlich. Tüchtigen Hausfrauen muß man aus dem Wege
gehen, wenn sie gerade bei der großen Reinigung oder mit der Zurüstung zu
einem Festmahl beschäftigt sind, weil ihnen da leicht irgend ein unästhetischer
oder harter Gegenstand aus der Hand und dem Störer an den Kopf fliegt,
Frauen von himmlischer Sanftmut hingegen sind nicht selten Schlampen und
machen den Mann mit angebrannten Suppen krank.

Daß sich eines nicht für alle schicke, gilt nirgends unbedingter als bei
den verschiednen Berufsständen. Der Aristokrat darf kein Pfennigfuchser sein,
der Handelsmann muß es sein. Umgekehrt muß der Aristokrat, namentlich
wenn er Offizier ist, gegen die leiseste Verletzung seiner Ehre empfindlich sein,
wahrend der Handelsmann sein Geschäft und die Existenz seiner Familie ge¬
fährden würde, wenn er sich nicht so manches kränkende Wort, so manche


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[0495] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? es nun zu hart, wenn unsre Biertrinker sich je den zehnten Schoppen versagten, um dessen Preis dein Reiche zuzuwenden? Es ist ja nicht schwer zu erkennen, weshalb eine höhere Besteuerung des Bieres bisher uicht gelungen ist. Es ist nur schwer, offen darüber zu reden. Wollte unsre Staatsweisheit sich dahin richten, das Shstei» der indirekten Steuern sachgemäß auszubilden, so würde man eine so verletzende Steuer, wie die Erbschaftssteuer in ihrer Anwendung auf Kinder, Eltern und Ehegatten ist, füglich entbehren tonnen. Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? 2 erfolgen Nur den Wandel der Sittlichkeit in der Zeit, so finden wir einerseits immer reichere Entfaltung ursprünglicher Gefühle, anderseits Hin- und Herschwingen dieser Gefühle um einen Gleich- gewichtspnnkt und gleichmäßig fortschreitende Verfeinerung und Verzweigung der sittliche» wie der unsittlichen Gefühle und ihrer Äußerungen. Fassen wir die gleichzeitigen sittlichen Erscheinungen eines Volkes oder der ganzen Menschheit ins Auge, so bemerken wir eine große Mannich- faltigkeit verschiedner, ja einander widersprechender sittlicher Grundformen: Persönlicher, Berufs- und Völkertypen. Den persönlichen liegen die Temperamente zu Grunde. Sehr Sittenstrenge Menschen zeichnen sich selten durch Barmherzigkeit aus, und gütige Naturen sind oft ein wenig liederlich. Tüchtigen Hausfrauen muß man aus dem Wege gehen, wenn sie gerade bei der großen Reinigung oder mit der Zurüstung zu einem Festmahl beschäftigt sind, weil ihnen da leicht irgend ein unästhetischer oder harter Gegenstand aus der Hand und dem Störer an den Kopf fliegt, Frauen von himmlischer Sanftmut hingegen sind nicht selten Schlampen und machen den Mann mit angebrannten Suppen krank. Daß sich eines nicht für alle schicke, gilt nirgends unbedingter als bei den verschiednen Berufsständen. Der Aristokrat darf kein Pfennigfuchser sein, der Handelsmann muß es sein. Umgekehrt muß der Aristokrat, namentlich wenn er Offizier ist, gegen die leiseste Verletzung seiner Ehre empfindlich sein, wahrend der Handelsmann sein Geschäft und die Existenz seiner Familie ge¬ fährden würde, wenn er sich nicht so manches kränkende Wort, so manche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/495>, abgerufen am 28.04.2024.