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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es eine" sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Nichtachtung, so manche unverschämte Zumutung gefallen ließe. Man mag
die Verwerflichkeit des Duells aus der Vernunft und aus der Bibel sonnen¬
klar und unwiderleglich beweisen, so viel steht trotzdem fest: an dem Tage,
wo der Offizier, der auf öffentlichem Markte beleidigt wird, anstatt sich selbst
Genugthuung zu verschaffen, eine Klage einreicht, an diesem Tage machen wir
einen Strich durch die Worte Adel, Aristokratie, Rittertum, Offizierstand.
Will man diese historischen Erscheinungen, diese Bestandteile des Staate? der
folgerichtigen Durchführung der christlichen Sittenlehre zum Opfer bringen, so
mag mau es thun; aber man soll wenigstens wissen, was man thut. Schon
bei der Beurteilung des Knaben tritt dieser Widerspruch zwischen einer einzelnen
sittlichen Anforderung und dem Gesamtcharakter hervor; denn fast jeder Knabe
ist von Natur ein Ritter, zum nützlichen Gliede der Gesellschaft, das sich alles
gefallen läßt, wird er erst -- herabgezogen. Wenn ein vierzehnjähriger Knabe
von einem Kameraden beleidigt wird und diesen weidlich zerbläut, so erleidet
er, falls es herauskommt, eine Schulstrafe, und sein Vater tadelt oder straft
ihn vielleicht nochmals, aber mit freudigen! Stolz im Herzen. Pelze er über
deu Beleidiger an, der sich vielleicht strafbarer unflätiger Worte bedient hat,
so handelt er gesetzmäßig (überall allerdings nicht; ich kenne eine Erziehungs¬
anstalt für Sohne des Adels, wo, wenigstens vor zwanzig Jahren noch, alles
Deuunziren streng verboten war) und nach den heute herrschenden Begriffen
sogar moralisch, da es als Pflicht gilt, jedes Vergehen zur Kenntnis des
Richters zu bringen; der Vater aber wird seinen höchst loyalen und moralischen
Sohn -- im Herzen verachten. Herbart hat als Hauslehrer einmal etwas
sehr merkwürdiges in sein Tagebuch eingetragen. Er getraute sich nicht, seinen
Zöglingen die christliche Sittenlehre mitzuteilen; deun, schreibt er, kennten sie
diese, so müßten sie die abendlichen Schlägereien mit den Dorfjungen für
unrecht halten; diese sind aber uUentbehrlich als gesunde Bethätigung ihrer
Kuabeuuatur und zur Bildung ihres männlichen Charakters.

IiA8oibi1llÄ8 nannten die Scholastiker jene Stimmung, die bei Überwindung
von Hindernissen entsteht. Das Wort ist weder schön noch klassisch, aber gut.
Sehen nur uns einen Menschen an, der sich gegen eine Hvlzkiste stemmt, um
sie durch Umkippen fortzubewegen. Was er empfindet bei der Anspannung
aller seiner Muskeln und während ihm das Holz die Schulter wund reibt,
ist ungefähr das Gegenteil von der Empfindung des fröhlich schmausenden
oder tanzenden. Sein dunkelrvtes, von scharfen Falten durchfurchtes Gesicht
sieht zornig aus; und laßt einen dummen Jungen ihn necken in dem Augen¬
blicke, wo er die Kiste schon beinahe zum Kippen gebracht hatte, so sollt ihr
sehen, wie sich der Zorn entlädt. Daher finden wir es natürlich, daß sich
Leute, deren Berufsarbeit ein fortmährender Kampf mit Hindernissen ist, das
Fluchen angewöhnen, und einem lammfrommen, aalglatten, geduldigen Fuhr¬
knecht, Matrosen oder Unteroffizier würden wir nicht trauen, ob er tüchtig in


Giebt es eine» sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Nichtachtung, so manche unverschämte Zumutung gefallen ließe. Man mag
die Verwerflichkeit des Duells aus der Vernunft und aus der Bibel sonnen¬
klar und unwiderleglich beweisen, so viel steht trotzdem fest: an dem Tage,
wo der Offizier, der auf öffentlichem Markte beleidigt wird, anstatt sich selbst
Genugthuung zu verschaffen, eine Klage einreicht, an diesem Tage machen wir
einen Strich durch die Worte Adel, Aristokratie, Rittertum, Offizierstand.
Will man diese historischen Erscheinungen, diese Bestandteile des Staate? der
folgerichtigen Durchführung der christlichen Sittenlehre zum Opfer bringen, so
mag mau es thun; aber man soll wenigstens wissen, was man thut. Schon
bei der Beurteilung des Knaben tritt dieser Widerspruch zwischen einer einzelnen
sittlichen Anforderung und dem Gesamtcharakter hervor; denn fast jeder Knabe
ist von Natur ein Ritter, zum nützlichen Gliede der Gesellschaft, das sich alles
gefallen läßt, wird er erst — herabgezogen. Wenn ein vierzehnjähriger Knabe
von einem Kameraden beleidigt wird und diesen weidlich zerbläut, so erleidet
er, falls es herauskommt, eine Schulstrafe, und sein Vater tadelt oder straft
ihn vielleicht nochmals, aber mit freudigen! Stolz im Herzen. Pelze er über
deu Beleidiger an, der sich vielleicht strafbarer unflätiger Worte bedient hat,
so handelt er gesetzmäßig (überall allerdings nicht; ich kenne eine Erziehungs¬
anstalt für Sohne des Adels, wo, wenigstens vor zwanzig Jahren noch, alles
Deuunziren streng verboten war) und nach den heute herrschenden Begriffen
sogar moralisch, da es als Pflicht gilt, jedes Vergehen zur Kenntnis des
Richters zu bringen; der Vater aber wird seinen höchst loyalen und moralischen
Sohn — im Herzen verachten. Herbart hat als Hauslehrer einmal etwas
sehr merkwürdiges in sein Tagebuch eingetragen. Er getraute sich nicht, seinen
Zöglingen die christliche Sittenlehre mitzuteilen; deun, schreibt er, kennten sie
diese, so müßten sie die abendlichen Schlägereien mit den Dorfjungen für
unrecht halten; diese sind aber uUentbehrlich als gesunde Bethätigung ihrer
Kuabeuuatur und zur Bildung ihres männlichen Charakters.

IiA8oibi1llÄ8 nannten die Scholastiker jene Stimmung, die bei Überwindung
von Hindernissen entsteht. Das Wort ist weder schön noch klassisch, aber gut.
Sehen nur uns einen Menschen an, der sich gegen eine Hvlzkiste stemmt, um
sie durch Umkippen fortzubewegen. Was er empfindet bei der Anspannung
aller seiner Muskeln und während ihm das Holz die Schulter wund reibt,
ist ungefähr das Gegenteil von der Empfindung des fröhlich schmausenden
oder tanzenden. Sein dunkelrvtes, von scharfen Falten durchfurchtes Gesicht
sieht zornig aus; und laßt einen dummen Jungen ihn necken in dem Augen¬
blicke, wo er die Kiste schon beinahe zum Kippen gebracht hatte, so sollt ihr
sehen, wie sich der Zorn entlädt. Daher finden wir es natürlich, daß sich
Leute, deren Berufsarbeit ein fortmährender Kampf mit Hindernissen ist, das
Fluchen angewöhnen, und einem lammfrommen, aalglatten, geduldigen Fuhr¬
knecht, Matrosen oder Unteroffizier würden wir nicht trauen, ob er tüchtig in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/496>, abgerufen am 11.05.2024.