Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

zwungen, in denen die Logik stärker war als der kirchliche Sinn. Trotzdem
läßt es sich heute noch nicht entscheiden, ob jener Schlag ins Gesicht der
modernen Wissenschaft und Denkweise eine große Dummheit oder ein Akt vor-
schaueuder Weisheit gewesen ist. Pius IX. soll ein beschränkter Kopf gewesen
sein, und was kein Verstand der Verständigen sieht, das übt oft in Einfalt
ein kindlich Gemüt. Wenn sich der liberale Katholizismus in Deutschland,
England und Frankreich, ungehindert durch Kurie und Jesuiten, still und stetig
weiter entwickelt hätte, wer weiß, ob nicht eines schönen Morgens Millionen
gebildeter Katholiken als Protestanten aufgewacht wären. Dieser friedlichen
Prvtestnutisirung einen Riegel vorgeschoben zu haben, ist -- vom katholischen
Standpunkt aus gesprochen -- das Verdienst des bigotten Pius. Vielleicht
hat er durch seine Eucykliken und Dekrete den Besitzstand des Katholizismus
auf weitere Jahrhunderte gesichert, vielleicht auch damit einen gefährlichen
Sprengstoff hineingelegt. Wer kann in die Zukunft sehen?




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bismarck kein Musikgelehrter. Was der deutsche und vor allem der
norddeutsche Schreibepvbel seit dem Rücktritt Bismarcks geleistet, wie viel er dazu
beigetragen hat, bei Partiknlaristen aller Schnttirungen, bei Ultrnmoutcmeu, Fran¬
zosen, Slawen, Dänen u. s. w. den Glauben zu erzeugen, daß nun ihr Weizen
wieder blühen werde, da gerade in Preußen Undankbarkeit und politischer Unver¬
stand sich groß genug erweisen, um persönlichem und Parteihaß das laute Wort
zu gestatten, das wird uns lange im Gedächtnis bleiben. Thun doch die Wackern,
die sich wie unnütze Buben hinter dem Rücken des Schulmeisters benehmen, das
Ihrige, um das Gefühl der Beschämung nicht zur Ruhe kommen zu lassen, wie sie
denn die alberne Legende vom Hansmeiertum in neuem Aufputz wieder vorbringen.
Aber der deutsche Philister ist auch damit nicht zufrieden. Bismarck hat einen
Komponisten populärer Weisen zu irgend einem Gedenktage beglückwünscht. Darob
ergrimmt einer vom Staude der Musiklehrer, die natürlich auch eine eigne Zeit¬
schrift haben, und läßt in dieser ein Spottgedicht abdrucken, das er ohne Zweifel
für sehr witzig hält, und das von freisinnigen Blättern mit Behagen nachgedruckt
wird. Ja es war wirklich hohe Zeit, daß das deutsche Reich einen andern Kanzler
erhielt, denn der frühere hört zwar (wie jedermann aus seinen Briefen weiß) gern
Beethoven, aber für Liszt, Rubinstein n. s. w. scheint er nicht das rechte Ver¬
ständnis zu haben, und ein solcher Mangel kann durch die untergeordneten Leistungen
Bismarcks auf andern Gebieten natürlich nicht aufgewogen werden! Wie sagt doch
Bewer in seiner Schrift gegen Georg Brandes? "Welcher französische Kritiker


Maßgebliches und Unmaßgebliches

zwungen, in denen die Logik stärker war als der kirchliche Sinn. Trotzdem
läßt es sich heute noch nicht entscheiden, ob jener Schlag ins Gesicht der
modernen Wissenschaft und Denkweise eine große Dummheit oder ein Akt vor-
schaueuder Weisheit gewesen ist. Pius IX. soll ein beschränkter Kopf gewesen
sein, und was kein Verstand der Verständigen sieht, das übt oft in Einfalt
ein kindlich Gemüt. Wenn sich der liberale Katholizismus in Deutschland,
England und Frankreich, ungehindert durch Kurie und Jesuiten, still und stetig
weiter entwickelt hätte, wer weiß, ob nicht eines schönen Morgens Millionen
gebildeter Katholiken als Protestanten aufgewacht wären. Dieser friedlichen
Prvtestnutisirung einen Riegel vorgeschoben zu haben, ist — vom katholischen
Standpunkt aus gesprochen — das Verdienst des bigotten Pius. Vielleicht
hat er durch seine Eucykliken und Dekrete den Besitzstand des Katholizismus
auf weitere Jahrhunderte gesichert, vielleicht auch damit einen gefährlichen
Sprengstoff hineingelegt. Wer kann in die Zukunft sehen?




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Bismarck kein Musikgelehrter. Was der deutsche und vor allem der
norddeutsche Schreibepvbel seit dem Rücktritt Bismarcks geleistet, wie viel er dazu
beigetragen hat, bei Partiknlaristen aller Schnttirungen, bei Ultrnmoutcmeu, Fran¬
zosen, Slawen, Dänen u. s. w. den Glauben zu erzeugen, daß nun ihr Weizen
wieder blühen werde, da gerade in Preußen Undankbarkeit und politischer Unver¬
stand sich groß genug erweisen, um persönlichem und Parteihaß das laute Wort
zu gestatten, das wird uns lange im Gedächtnis bleiben. Thun doch die Wackern,
die sich wie unnütze Buben hinter dem Rücken des Schulmeisters benehmen, das
Ihrige, um das Gefühl der Beschämung nicht zur Ruhe kommen zu lassen, wie sie
denn die alberne Legende vom Hansmeiertum in neuem Aufputz wieder vorbringen.
Aber der deutsche Philister ist auch damit nicht zufrieden. Bismarck hat einen
Komponisten populärer Weisen zu irgend einem Gedenktage beglückwünscht. Darob
ergrimmt einer vom Staude der Musiklehrer, die natürlich auch eine eigne Zeit¬
schrift haben, und läßt in dieser ein Spottgedicht abdrucken, das er ohne Zweifel
für sehr witzig hält, und das von freisinnigen Blättern mit Behagen nachgedruckt
wird. Ja es war wirklich hohe Zeit, daß das deutsche Reich einen andern Kanzler
erhielt, denn der frühere hört zwar (wie jedermann aus seinen Briefen weiß) gern
Beethoven, aber für Liszt, Rubinstein n. s. w. scheint er nicht das rechte Ver¬
ständnis zu haben, und ein solcher Mangel kann durch die untergeordneten Leistungen
Bismarcks auf andern Gebieten natürlich nicht aufgewogen werden! Wie sagt doch
Bewer in seiner Schrift gegen Georg Brandes? „Welcher französische Kritiker


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0528" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208465"/>
          <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1634" prev="#ID_1633"> zwungen, in denen die Logik stärker war als der kirchliche Sinn. Trotzdem<lb/>
läßt es sich heute noch nicht entscheiden, ob jener Schlag ins Gesicht der<lb/>
modernen Wissenschaft und Denkweise eine große Dummheit oder ein Akt vor-<lb/>
schaueuder Weisheit gewesen ist. Pius IX. soll ein beschränkter Kopf gewesen<lb/>
sein, und was kein Verstand der Verständigen sieht, das übt oft in Einfalt<lb/>
ein kindlich Gemüt. Wenn sich der liberale Katholizismus in Deutschland,<lb/>
England und Frankreich, ungehindert durch Kurie und Jesuiten, still und stetig<lb/>
weiter entwickelt hätte, wer weiß, ob nicht eines schönen Morgens Millionen<lb/>
gebildeter Katholiken als Protestanten aufgewacht wären. Dieser friedlichen<lb/>
Prvtestnutisirung einen Riegel vorgeschoben zu haben, ist &#x2014; vom katholischen<lb/>
Standpunkt aus gesprochen &#x2014; das Verdienst des bigotten Pius. Vielleicht<lb/>
hat er durch seine Eucykliken und Dekrete den Besitzstand des Katholizismus<lb/>
auf weitere Jahrhunderte gesichert, vielleicht auch damit einen gefährlichen<lb/>
Sprengstoff hineingelegt.  Wer kann in die Zukunft sehen?</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1635" next="#ID_1636"> Bismarck kein Musikgelehrter. Was der deutsche und vor allem der<lb/>
norddeutsche Schreibepvbel seit dem Rücktritt Bismarcks geleistet, wie viel er dazu<lb/>
beigetragen hat, bei Partiknlaristen aller Schnttirungen, bei Ultrnmoutcmeu, Fran¬<lb/>
zosen, Slawen, Dänen u. s. w. den Glauben zu erzeugen, daß nun ihr Weizen<lb/>
wieder blühen werde, da gerade in Preußen Undankbarkeit und politischer Unver¬<lb/>
stand sich groß genug erweisen, um persönlichem und Parteihaß das laute Wort<lb/>
zu gestatten, das wird uns lange im Gedächtnis bleiben. Thun doch die Wackern,<lb/>
die sich wie unnütze Buben hinter dem Rücken des Schulmeisters benehmen, das<lb/>
Ihrige, um das Gefühl der Beschämung nicht zur Ruhe kommen zu lassen, wie sie<lb/>
denn die alberne Legende vom Hansmeiertum in neuem Aufputz wieder vorbringen.<lb/>
Aber der deutsche Philister ist auch damit nicht zufrieden. Bismarck hat einen<lb/>
Komponisten populärer Weisen zu irgend einem Gedenktage beglückwünscht. Darob<lb/>
ergrimmt einer vom Staude der Musiklehrer, die natürlich auch eine eigne Zeit¬<lb/>
schrift haben, und läßt in dieser ein Spottgedicht abdrucken, das er ohne Zweifel<lb/>
für sehr witzig hält, und das von freisinnigen Blättern mit Behagen nachgedruckt<lb/>
wird. Ja es war wirklich hohe Zeit, daß das deutsche Reich einen andern Kanzler<lb/>
erhielt, denn der frühere hört zwar (wie jedermann aus seinen Briefen weiß) gern<lb/>
Beethoven, aber für Liszt, Rubinstein n. s. w. scheint er nicht das rechte Ver¬<lb/>
ständnis zu haben, und ein solcher Mangel kann durch die untergeordneten Leistungen<lb/>
Bismarcks auf andern Gebieten natürlich nicht aufgewogen werden! Wie sagt doch<lb/>
Bewer in seiner Schrift gegen Georg Brandes?  &#x201E;Welcher französische Kritiker</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0528] Maßgebliches und Unmaßgebliches zwungen, in denen die Logik stärker war als der kirchliche Sinn. Trotzdem läßt es sich heute noch nicht entscheiden, ob jener Schlag ins Gesicht der modernen Wissenschaft und Denkweise eine große Dummheit oder ein Akt vor- schaueuder Weisheit gewesen ist. Pius IX. soll ein beschränkter Kopf gewesen sein, und was kein Verstand der Verständigen sieht, das übt oft in Einfalt ein kindlich Gemüt. Wenn sich der liberale Katholizismus in Deutschland, England und Frankreich, ungehindert durch Kurie und Jesuiten, still und stetig weiter entwickelt hätte, wer weiß, ob nicht eines schönen Morgens Millionen gebildeter Katholiken als Protestanten aufgewacht wären. Dieser friedlichen Prvtestnutisirung einen Riegel vorgeschoben zu haben, ist — vom katholischen Standpunkt aus gesprochen — das Verdienst des bigotten Pius. Vielleicht hat er durch seine Eucykliken und Dekrete den Besitzstand des Katholizismus auf weitere Jahrhunderte gesichert, vielleicht auch damit einen gefährlichen Sprengstoff hineingelegt. Wer kann in die Zukunft sehen? Maßgebliches und Unmaßgebliches Bismarck kein Musikgelehrter. Was der deutsche und vor allem der norddeutsche Schreibepvbel seit dem Rücktritt Bismarcks geleistet, wie viel er dazu beigetragen hat, bei Partiknlaristen aller Schnttirungen, bei Ultrnmoutcmeu, Fran¬ zosen, Slawen, Dänen u. s. w. den Glauben zu erzeugen, daß nun ihr Weizen wieder blühen werde, da gerade in Preußen Undankbarkeit und politischer Unver¬ stand sich groß genug erweisen, um persönlichem und Parteihaß das laute Wort zu gestatten, das wird uns lange im Gedächtnis bleiben. Thun doch die Wackern, die sich wie unnütze Buben hinter dem Rücken des Schulmeisters benehmen, das Ihrige, um das Gefühl der Beschämung nicht zur Ruhe kommen zu lassen, wie sie denn die alberne Legende vom Hansmeiertum in neuem Aufputz wieder vorbringen. Aber der deutsche Philister ist auch damit nicht zufrieden. Bismarck hat einen Komponisten populärer Weisen zu irgend einem Gedenktage beglückwünscht. Darob ergrimmt einer vom Staude der Musiklehrer, die natürlich auch eine eigne Zeit¬ schrift haben, und läßt in dieser ein Spottgedicht abdrucken, das er ohne Zweifel für sehr witzig hält, und das von freisinnigen Blättern mit Behagen nachgedruckt wird. Ja es war wirklich hohe Zeit, daß das deutsche Reich einen andern Kanzler erhielt, denn der frühere hört zwar (wie jedermann aus seinen Briefen weiß) gern Beethoven, aber für Liszt, Rubinstein n. s. w. scheint er nicht das rechte Ver¬ ständnis zu haben, und ein solcher Mangel kann durch die untergeordneten Leistungen Bismarcks auf andern Gebieten natürlich nicht aufgewogen werden! Wie sagt doch Bewer in seiner Schrift gegen Georg Brandes? „Welcher französische Kritiker

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/528
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/528>, abgerufen am 28.04.2024.