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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Gegenwart
3

se die Aufgabe der Gegenwart im Grunde eine pädagogische, so
hat offenbar die Schule ihren Anteil daran zu nehmen. Nach
einem bekannte" Schlagwort heißt es: Wer die Schule hat, der
hat die Zukunft in den Händen. Es fragt sich aber: Wer hat
die Schule in den Händen, und ist es auch wahr, daß man mit
ihr die Zukunft, das heißt das heranwachsende Geschlecht in den Händen hat?
Wir beschränken uns bei der Erwägung dieser Frage auf die Volksschule.

Wer hat die Schule in den Händen? Der Staat. Seit dem Schulauf-
sichtsgesetze vom Jahre 1872 wird die Schule ausdrücklich als Staatscmstnlt
bezeichnet. Bis dahin fand ein gemeinschaftlicher Besitz von Staat und Kirche
statt, der seine gute geschichtliche Begründung hatte und auch in der Praxis
das natürlichste war. Wenn nun der Staat unter Zuhilfenahme des Schul-
zwauges die Schule für seine Veranstaltung erklärt, so nimmt er eine große
Verantwortung auf seine Schulter und greift tiefer in die Privatverhältnisse
seiner Unterthanen ein, als durch irgend eine andre Anforderung, wie Dicnst-
zwang oder Steuerauflage. Streng genommen ist die Schule ein Gesamt¬
unternehmen der Eltern, die ihre Kinder geeigneten Händen zur Erziehung
übergeben. Nun kann man sich wohl denken, daß der Staat an die Stelle
der Eltern tritt und daß er gegenüber dem Unverstand einzelner die Meinung
ihres verständigeren Teiles zur Geltung bringt; aber er darf doch nicht ver¬
gessen, daß er Beauftragter der Eltern ist und daß er die Kinder nicht für
sich -- um ihnen die "für einen vernünftigen Menschen notwendigen Kennt¬
nisse" beizubringen oder um leistungsfähige Steuerzahler oder Soldaten zu
habe" --, sondern für die Eltern erzieht. Und dies umso weniger, als er
die Eltern zwingt, ihm ihre Kinder zu übergeben. Er wird alle Rücksicht auf


Grenzboten 111 1890 7


Die Aufgabe der Gegenwart
3

se die Aufgabe der Gegenwart im Grunde eine pädagogische, so
hat offenbar die Schule ihren Anteil daran zu nehmen. Nach
einem bekannte» Schlagwort heißt es: Wer die Schule hat, der
hat die Zukunft in den Händen. Es fragt sich aber: Wer hat
die Schule in den Händen, und ist es auch wahr, daß man mit
ihr die Zukunft, das heißt das heranwachsende Geschlecht in den Händen hat?
Wir beschränken uns bei der Erwägung dieser Frage auf die Volksschule.

Wer hat die Schule in den Händen? Der Staat. Seit dem Schulauf-
sichtsgesetze vom Jahre 1872 wird die Schule ausdrücklich als Staatscmstnlt
bezeichnet. Bis dahin fand ein gemeinschaftlicher Besitz von Staat und Kirche
statt, der seine gute geschichtliche Begründung hatte und auch in der Praxis
das natürlichste war. Wenn nun der Staat unter Zuhilfenahme des Schul-
zwauges die Schule für seine Veranstaltung erklärt, so nimmt er eine große
Verantwortung auf seine Schulter und greift tiefer in die Privatverhältnisse
seiner Unterthanen ein, als durch irgend eine andre Anforderung, wie Dicnst-
zwang oder Steuerauflage. Streng genommen ist die Schule ein Gesamt¬
unternehmen der Eltern, die ihre Kinder geeigneten Händen zur Erziehung
übergeben. Nun kann man sich wohl denken, daß der Staat an die Stelle
der Eltern tritt und daß er gegenüber dem Unverstand einzelner die Meinung
ihres verständigeren Teiles zur Geltung bringt; aber er darf doch nicht ver¬
gessen, daß er Beauftragter der Eltern ist und daß er die Kinder nicht für
sich — um ihnen die „für einen vernünftigen Menschen notwendigen Kennt¬
nisse" beizubringen oder um leistungsfähige Steuerzahler oder Soldaten zu
habe» —, sondern für die Eltern erzieht. Und dies umso weniger, als er
die Eltern zwingt, ihm ihre Kinder zu übergeben. Er wird alle Rücksicht auf


Grenzboten 111 1890 7
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[0057] [Abbildung] Die Aufgabe der Gegenwart 3 se die Aufgabe der Gegenwart im Grunde eine pädagogische, so hat offenbar die Schule ihren Anteil daran zu nehmen. Nach einem bekannte» Schlagwort heißt es: Wer die Schule hat, der hat die Zukunft in den Händen. Es fragt sich aber: Wer hat die Schule in den Händen, und ist es auch wahr, daß man mit ihr die Zukunft, das heißt das heranwachsende Geschlecht in den Händen hat? Wir beschränken uns bei der Erwägung dieser Frage auf die Volksschule. Wer hat die Schule in den Händen? Der Staat. Seit dem Schulauf- sichtsgesetze vom Jahre 1872 wird die Schule ausdrücklich als Staatscmstnlt bezeichnet. Bis dahin fand ein gemeinschaftlicher Besitz von Staat und Kirche statt, der seine gute geschichtliche Begründung hatte und auch in der Praxis das natürlichste war. Wenn nun der Staat unter Zuhilfenahme des Schul- zwauges die Schule für seine Veranstaltung erklärt, so nimmt er eine große Verantwortung auf seine Schulter und greift tiefer in die Privatverhältnisse seiner Unterthanen ein, als durch irgend eine andre Anforderung, wie Dicnst- zwang oder Steuerauflage. Streng genommen ist die Schule ein Gesamt¬ unternehmen der Eltern, die ihre Kinder geeigneten Händen zur Erziehung übergeben. Nun kann man sich wohl denken, daß der Staat an die Stelle der Eltern tritt und daß er gegenüber dem Unverstand einzelner die Meinung ihres verständigeren Teiles zur Geltung bringt; aber er darf doch nicht ver¬ gessen, daß er Beauftragter der Eltern ist und daß er die Kinder nicht für sich — um ihnen die „für einen vernünftigen Menschen notwendigen Kennt¬ nisse" beizubringen oder um leistungsfähige Steuerzahler oder Soldaten zu habe» —, sondern für die Eltern erzieht. Und dies umso weniger, als er die Eltern zwingt, ihm ihre Kinder zu übergeben. Er wird alle Rücksicht auf Grenzboten 111 1890 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/57>, abgerufen am 28.04.2024.