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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit

Denn wenn die Eltern ihrer Kinder nicht Herr sind, so lange sie sie ernähren,
so haben sie allen Einfluß auf sie verloren, wenn die Kinder, kaum aus der
Schule heraus, in ihrem Einkommen selbständig geworden sind. Solche Zu¬
stände bilden den eigentlichen Boden der Svzialdemvkmtie.

Unser Volk hat mit der Veränderung der Erwerbsverhältnisse und mit
der gesetzlichen Regelung dieses Zustandes durch die Gewerbefreiheit die innere
Gliederung verloren. Sonst kam ein junger Bursch in die Lehre und damit
in strenge Zucht. Auch auf dem Lande gab es das Lehrlingsverhältnis in
Gestalt des "Eulen." Jetzt giebt es nur noch Arbeiter. Der junge Bursche
ist so gut Arbeiter wie der erfahrene Mann. Er will Gehilfe und Meister
sein, ohne gelernt zu haben. Daß dies ein unhaltbarer Zustand ist, ist doch
klar. Wir sind nicht so kurzsichtig, zu glauben, daß mit der Wiedereinführung
der alten Zünfte aller Not abgeholfen sei, aber das meinen wir, daß für die
neuen Verhältnisse neue Formen gefunden werden müssen, um aus dem gegen¬
wärtigen Chaos herauszukommen.




Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungs¬
fähigkeit
V !V. Simon on

in vorigen Jahrgange der Grenzboten erörtert ein medizinischer
Sachverständiger die Lehre von der Zilrechnuugsfähigkeit nach
geltendem Recht und gelangt zu folgendem Ergebnis: 1. Der
§ 51 des Strafgesetzbuchs macht es nötig, zwischen Schwachsinn
hohen und niedern Grades zu unterscheiden. Nur der erstere
befreit von Schuld im Sinne des Gesetzes. 2. Schwachsinn hohen Grades
wird jedesmal dann anzunehmen sein, wenn die gesetzliche Entmündigung nach
§ 28, Teil 1, Titel 1 des preußischen Landrechts möglich ist. 3. Die innere
Berechtigung dieser Unterscheidung beruht darauf, daß dem, der die Folgen
seiner Handlungen zu überlegen außer stunde ist, damit auch die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit erforderliche Einsicht abgesprochen werden muß. Diese aber
ist die allgemeine Vorbedingung jeder Verschuldung. Unter Schwachsinn
versteht der Verfasser jenes Aufsatzes auch den sogenannten moralischen
Schwachsinn.


Grenzboten III 1890 8
Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit

Denn wenn die Eltern ihrer Kinder nicht Herr sind, so lange sie sie ernähren,
so haben sie allen Einfluß auf sie verloren, wenn die Kinder, kaum aus der
Schule heraus, in ihrem Einkommen selbständig geworden sind. Solche Zu¬
stände bilden den eigentlichen Boden der Svzialdemvkmtie.

Unser Volk hat mit der Veränderung der Erwerbsverhältnisse und mit
der gesetzlichen Regelung dieses Zustandes durch die Gewerbefreiheit die innere
Gliederung verloren. Sonst kam ein junger Bursch in die Lehre und damit
in strenge Zucht. Auch auf dem Lande gab es das Lehrlingsverhältnis in
Gestalt des „Eulen." Jetzt giebt es nur noch Arbeiter. Der junge Bursche
ist so gut Arbeiter wie der erfahrene Mann. Er will Gehilfe und Meister
sein, ohne gelernt zu haben. Daß dies ein unhaltbarer Zustand ist, ist doch
klar. Wir sind nicht so kurzsichtig, zu glauben, daß mit der Wiedereinführung
der alten Zünfte aller Not abgeholfen sei, aber das meinen wir, daß für die
neuen Verhältnisse neue Formen gefunden werden müssen, um aus dem gegen¬
wärtigen Chaos herauszukommen.




Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungs¬
fähigkeit
V !V. Simon on

in vorigen Jahrgange der Grenzboten erörtert ein medizinischer
Sachverständiger die Lehre von der Zilrechnuugsfähigkeit nach
geltendem Recht und gelangt zu folgendem Ergebnis: 1. Der
§ 51 des Strafgesetzbuchs macht es nötig, zwischen Schwachsinn
hohen und niedern Grades zu unterscheiden. Nur der erstere
befreit von Schuld im Sinne des Gesetzes. 2. Schwachsinn hohen Grades
wird jedesmal dann anzunehmen sein, wenn die gesetzliche Entmündigung nach
§ 28, Teil 1, Titel 1 des preußischen Landrechts möglich ist. 3. Die innere
Berechtigung dieser Unterscheidung beruht darauf, daß dem, der die Folgen
seiner Handlungen zu überlegen außer stunde ist, damit auch die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit erforderliche Einsicht abgesprochen werden muß. Diese aber
ist die allgemeine Vorbedingung jeder Verschuldung. Unter Schwachsinn
versteht der Verfasser jenes Aufsatzes auch den sogenannten moralischen
Schwachsinn.


Grenzboten III 1890 8
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[0065] Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit Denn wenn die Eltern ihrer Kinder nicht Herr sind, so lange sie sie ernähren, so haben sie allen Einfluß auf sie verloren, wenn die Kinder, kaum aus der Schule heraus, in ihrem Einkommen selbständig geworden sind. Solche Zu¬ stände bilden den eigentlichen Boden der Svzialdemvkmtie. Unser Volk hat mit der Veränderung der Erwerbsverhältnisse und mit der gesetzlichen Regelung dieses Zustandes durch die Gewerbefreiheit die innere Gliederung verloren. Sonst kam ein junger Bursch in die Lehre und damit in strenge Zucht. Auch auf dem Lande gab es das Lehrlingsverhältnis in Gestalt des „Eulen." Jetzt giebt es nur noch Arbeiter. Der junge Bursche ist so gut Arbeiter wie der erfahrene Mann. Er will Gehilfe und Meister sein, ohne gelernt zu haben. Daß dies ein unhaltbarer Zustand ist, ist doch klar. Wir sind nicht so kurzsichtig, zu glauben, daß mit der Wiedereinführung der alten Zünfte aller Not abgeholfen sei, aber das meinen wir, daß für die neuen Verhältnisse neue Formen gefunden werden müssen, um aus dem gegen¬ wärtigen Chaos herauszukommen. Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungs¬ fähigkeit V !V. Simon on in vorigen Jahrgange der Grenzboten erörtert ein medizinischer Sachverständiger die Lehre von der Zilrechnuugsfähigkeit nach geltendem Recht und gelangt zu folgendem Ergebnis: 1. Der § 51 des Strafgesetzbuchs macht es nötig, zwischen Schwachsinn hohen und niedern Grades zu unterscheiden. Nur der erstere befreit von Schuld im Sinne des Gesetzes. 2. Schwachsinn hohen Grades wird jedesmal dann anzunehmen sein, wenn die gesetzliche Entmündigung nach § 28, Teil 1, Titel 1 des preußischen Landrechts möglich ist. 3. Die innere Berechtigung dieser Unterscheidung beruht darauf, daß dem, der die Folgen seiner Handlungen zu überlegen außer stunde ist, damit auch die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht abgesprochen werden muß. Diese aber ist die allgemeine Vorbedingung jeder Verschuldung. Unter Schwachsinn versteht der Verfasser jenes Aufsatzes auch den sogenannten moralischen Schwachsinn. Grenzboten III 1890 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/65>, abgerufen am 28.04.2024.