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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnnngsfächigkeit

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über die Grenzen der Wahnidee als geistig gesund nicht anzusehen sei, so werde
hierdurch zugleich festgestellt, daß die freie Willensbestimmung auch bezüglich
der einzelnen That ausgeschlossen sei; der Thäter könne nach vielen Richtungen
hin eine freie Willensbestimmnng zeigen und doch die That unfrei begehen.
Gleichwohl wurde dieser Zusatz vom Reichstage gestrichen, indem man besorgte,
es möchte zum Nachteil des Angeklagten der Nachweis gefordert werden, daß
gerade in Beziehung auf die angeschuldigte Handlung die freie Willens¬
bestimmung ausgeschlossen gewesen sei.

Die Entstehung des Gesetzes ergiebt also, daß man nicht beabsichtigte,
die Vorschrift des ersten Entwurfs einzuschränken und alle Handlungen, bei
denen die freie Willensbestimmnng ausgeschlossen ist, abgesehen von den im
Gesetz hervorgehobenen Fällen, für strafbar zu erklären, sondern daß man
lediglich einer mißbräuchlichen Anwendung des Gesetzes vorbeugen wollte.
Der Gesetzgeber geht sichtlich von der Auffassung aus, daß seine Aufzählung
erschöpfend sei, und daß es weitere Fälle, wo die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen sei, nicht gebe. Die Fälle des äußern Zwanges hat er unter
Z 52 des Gesetzes untergebracht. Was § 51 betrifft, so unterscheiden die
Motive 1. Zustände, die gewöhnlich nicht als Krankheit aufgefaßt werden
(Bewußtlosigkeit), 2. Zustände, bei denen eine Krankheit festzustellen sei (krank¬
hafte Störung der Geistesthätigkeit). Zu beachten ist aber, daß die Ausdrücke
"Bewußtlosigkeit" und "krankhafte Störung der Geistesthätigkeit" keine juristisch
technischen Begriffe, fondern dem gewöhnlichen Leben entnommen sind. Obwohl
nun die Motive für die Auslegung des Gesetzes von hohem Werte sind, so ist
doch nur das, was im Gesetz zum Ausdruck gekommen ist, maßgebend, und
deshalb der Sprachgebrauch von wesentlicher Bedeutung.

Es ist nun nicht zu bezweifeln, daß unter Bewußtlosigkeit sprach-
gebrüuchlich der vorübergehende Zustand völliger Geistesabwesenheit verstanden
wird. Der Einwand, daß bei völliger Bewußtlosigkeit von einer Handlung
gar nicht die Rede fein könne, ist nicht stichhaltig, da man thatsächlich auch
in solchen Fällen von Handlungen spricht. In dem Satze, daß jemand im
Zustande sinnloser Trunkenheit etwas gethan oder unterlassen habe, liegt bei¬
spielsweise nichts Sprachwidriges. Zwar wäre es logisch richtiger, solche Fälle
als Neflexerschcinungen zu kennzeichnen, aber für diese fehlt es der deutschen
Sprache an einem zutreffenden Ausdruck. Der Sprachgebrauch ist überdies
nicht immer logisch. Mit demselben Rechte ließe sich geltend machen, daß,
wenn eine strafbare Handlung nicht vorhanden sei (Ausdruck des Gesetzes),
auch von einem Thäter nicht die Rede sein könne, weil der Thäter nach dem
Sprachgebrauch des Gesetzes stets strafbar sei, ferner, daß die Überschrift des
vierten Abschnitts "Grüude, welche die Strafe ausschließen oder mildern,"
nicht richtig gewählt sei, weil, wenn eine strafbare Handlung nicht vorhanden
sei, eine Strafe nicht eintreten, folglich auch nicht ausgeschlossen werden könne.


Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnnngsfächigkeit

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über die Grenzen der Wahnidee als geistig gesund nicht anzusehen sei, so werde
hierdurch zugleich festgestellt, daß die freie Willensbestimmung auch bezüglich
der einzelnen That ausgeschlossen sei; der Thäter könne nach vielen Richtungen
hin eine freie Willensbestimmnng zeigen und doch die That unfrei begehen.
Gleichwohl wurde dieser Zusatz vom Reichstage gestrichen, indem man besorgte,
es möchte zum Nachteil des Angeklagten der Nachweis gefordert werden, daß
gerade in Beziehung auf die angeschuldigte Handlung die freie Willens¬
bestimmung ausgeschlossen gewesen sei.

Die Entstehung des Gesetzes ergiebt also, daß man nicht beabsichtigte,
die Vorschrift des ersten Entwurfs einzuschränken und alle Handlungen, bei
denen die freie Willensbestimmnng ausgeschlossen ist, abgesehen von den im
Gesetz hervorgehobenen Fällen, für strafbar zu erklären, sondern daß man
lediglich einer mißbräuchlichen Anwendung des Gesetzes vorbeugen wollte.
Der Gesetzgeber geht sichtlich von der Auffassung aus, daß seine Aufzählung
erschöpfend sei, und daß es weitere Fälle, wo die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen sei, nicht gebe. Die Fälle des äußern Zwanges hat er unter
Z 52 des Gesetzes untergebracht. Was § 51 betrifft, so unterscheiden die
Motive 1. Zustände, die gewöhnlich nicht als Krankheit aufgefaßt werden
(Bewußtlosigkeit), 2. Zustände, bei denen eine Krankheit festzustellen sei (krank¬
hafte Störung der Geistesthätigkeit). Zu beachten ist aber, daß die Ausdrücke
„Bewußtlosigkeit" und „krankhafte Störung der Geistesthätigkeit" keine juristisch
technischen Begriffe, fondern dem gewöhnlichen Leben entnommen sind. Obwohl
nun die Motive für die Auslegung des Gesetzes von hohem Werte sind, so ist
doch nur das, was im Gesetz zum Ausdruck gekommen ist, maßgebend, und
deshalb der Sprachgebrauch von wesentlicher Bedeutung.

Es ist nun nicht zu bezweifeln, daß unter Bewußtlosigkeit sprach-
gebrüuchlich der vorübergehende Zustand völliger Geistesabwesenheit verstanden
wird. Der Einwand, daß bei völliger Bewußtlosigkeit von einer Handlung
gar nicht die Rede fein könne, ist nicht stichhaltig, da man thatsächlich auch
in solchen Fällen von Handlungen spricht. In dem Satze, daß jemand im
Zustande sinnloser Trunkenheit etwas gethan oder unterlassen habe, liegt bei¬
spielsweise nichts Sprachwidriges. Zwar wäre es logisch richtiger, solche Fälle
als Neflexerschcinungen zu kennzeichnen, aber für diese fehlt es der deutschen
Sprache an einem zutreffenden Ausdruck. Der Sprachgebrauch ist überdies
nicht immer logisch. Mit demselben Rechte ließe sich geltend machen, daß,
wenn eine strafbare Handlung nicht vorhanden sei (Ausdruck des Gesetzes),
auch von einem Thäter nicht die Rede sein könne, weil der Thäter nach dem
Sprachgebrauch des Gesetzes stets strafbar sei, ferner, daß die Überschrift des
vierten Abschnitts „Grüude, welche die Strafe ausschließen oder mildern,"
nicht richtig gewählt sei, weil, wenn eine strafbare Handlung nicht vorhanden
sei, eine Strafe nicht eintreten, folglich auch nicht ausgeschlossen werden könne.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/68>, abgerufen am 28.04.2024.