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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zur Lehre von der strafrechtliche" Zurechnungsfähigkeit

Ein Verbreche" oder Vergehen ist nicht vorhanden, wenn zur Zeit der That
die freie Willensbestimmnng des Thäters ausgeschlossen war.

Doch erregte diese Fassung wieder wegen ihrer Allgemeinheit, die große
Gefahren für die Handhabung des Strafrechts herbeiführen konnte, Bedenken.
Einerseits konnten die Gerichtsärzte die Willensfreiheit schon durch jede Leiden¬
schaft, jede Erregung u. dergl. als ausgeschlossen ansehen, anderseits konnten
Richter nud Staatsnnwülte selbst beim Vorhandensein einer Geisteskrankheit die
Willensfreiheit dann annehmen, wenn ein Einfluß der Wahnvorstellungen auf
die That nicht nachweisbar war. Man wollte die Gründe genau angeben, in
denen bei Entscheidung des einzelnen Falles die Ausschließung der freien
Willensbestimmnng zu suchen sei. Einen großen Vorzug, meinte man, würde
es nun darbieten, wenn die Hinstellung eines fest umschriebenen Thatbestandes
möglich sei, und in der That lasse sich ein solcher für die durch äußern Zwang
begründete Ausschließung der Zurechnungsfähigkeit hinstellen, dagegen sei dies
bezüglich der Geisteskrankheiten nicht möglich oder wenigstens nicht ratsam.
Die psychologischen Thatsachen ließen, weil sie im Innern des Menschen vor
sich gehen, keine anschauliche und gemeinverständliche Bezeichnung zu, es gebe
im Sprachgebrauch des gemeinen Lebens kein allgemein geläufiges Wort,
wodurch die die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Geisteskrankheiten mit
hinreichender Bestimmtheit zusammengefaßt und von andern Krankheiten getrennt
würden. Zur Zeit sei es daher geboten, die in Betracht kommenden krank¬
haften Zustände' in das Gesetz aufzunehmen, und zwar in der sich am meisten
empfehlenden Bezeichnung, anderseits aber die Notwendigkeit der Beziehung
derselben auf den Ausschluß der freien Willensbestimmung hervorzuheben.
Die Bezeichnung "krankhafte Störung der Geistesthätigkeit" sei von den
vielen in Vorschlag gebrachten die passendste. Namentlich werde dadurch die
gerichtsärztliche Aufgabe scharf umgrenzt, indem der Gerichtsarzt zunächst zu
untersuchen habe, ob Krankheit vorhanden gewesen sei, wenn nicht, sich aller
weitern Erörterungen zu enthalten habe. Neben der krankhaften Störung der
Geistesthätigkeit seien denn noch die auf die Willensfreiheit störend einwirkenden
Zustände, die gewöhnlich nicht als Krankheit aufgefaßt würden, besonders zu
nennen, und hierher sei der Ausdruck "Bewußtlosigkeit" der richtigste und
gemeinverständlichste.

Der zweite Entwurf beruht hinsichtlich des Z 49 auf diesen Erwägungen.
49 stimmt mit 8 51 des jetzt geltenden Strafgesetzbuchs überein, nur enthielt
8 49 noch hinter den Worten "freie Willensbestimmung" den Zusatz "in
Beziehung auf die Handlung." Man wollte damit sagen, daß es nicht nötig
sei, festzustellen, daß die freie Willensbestimmung nach allen Richtungen hin
ausgeschlossen sei. Wenn der Arzt feststelle, daß Wahnidee", wenn auch nicht
in unmittelbar ursächlichen Zusammenhange mit der That und ihrem Zwecke
stehend, das geistige Bewußtsein des Thäters so gestört haben, daß er auch


Zur Lehre von der strafrechtliche» Zurechnungsfähigkeit

Ein Verbreche» oder Vergehen ist nicht vorhanden, wenn zur Zeit der That
die freie Willensbestimmnng des Thäters ausgeschlossen war.

Doch erregte diese Fassung wieder wegen ihrer Allgemeinheit, die große
Gefahren für die Handhabung des Strafrechts herbeiführen konnte, Bedenken.
Einerseits konnten die Gerichtsärzte die Willensfreiheit schon durch jede Leiden¬
schaft, jede Erregung u. dergl. als ausgeschlossen ansehen, anderseits konnten
Richter nud Staatsnnwülte selbst beim Vorhandensein einer Geisteskrankheit die
Willensfreiheit dann annehmen, wenn ein Einfluß der Wahnvorstellungen auf
die That nicht nachweisbar war. Man wollte die Gründe genau angeben, in
denen bei Entscheidung des einzelnen Falles die Ausschließung der freien
Willensbestimmnng zu suchen sei. Einen großen Vorzug, meinte man, würde
es nun darbieten, wenn die Hinstellung eines fest umschriebenen Thatbestandes
möglich sei, und in der That lasse sich ein solcher für die durch äußern Zwang
begründete Ausschließung der Zurechnungsfähigkeit hinstellen, dagegen sei dies
bezüglich der Geisteskrankheiten nicht möglich oder wenigstens nicht ratsam.
Die psychologischen Thatsachen ließen, weil sie im Innern des Menschen vor
sich gehen, keine anschauliche und gemeinverständliche Bezeichnung zu, es gebe
im Sprachgebrauch des gemeinen Lebens kein allgemein geläufiges Wort,
wodurch die die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Geisteskrankheiten mit
hinreichender Bestimmtheit zusammengefaßt und von andern Krankheiten getrennt
würden. Zur Zeit sei es daher geboten, die in Betracht kommenden krank¬
haften Zustände' in das Gesetz aufzunehmen, und zwar in der sich am meisten
empfehlenden Bezeichnung, anderseits aber die Notwendigkeit der Beziehung
derselben auf den Ausschluß der freien Willensbestimmung hervorzuheben.
Die Bezeichnung „krankhafte Störung der Geistesthätigkeit" sei von den
vielen in Vorschlag gebrachten die passendste. Namentlich werde dadurch die
gerichtsärztliche Aufgabe scharf umgrenzt, indem der Gerichtsarzt zunächst zu
untersuchen habe, ob Krankheit vorhanden gewesen sei, wenn nicht, sich aller
weitern Erörterungen zu enthalten habe. Neben der krankhaften Störung der
Geistesthätigkeit seien denn noch die auf die Willensfreiheit störend einwirkenden
Zustände, die gewöhnlich nicht als Krankheit aufgefaßt würden, besonders zu
nennen, und hierher sei der Ausdruck „Bewußtlosigkeit" der richtigste und
gemeinverständlichste.

Der zweite Entwurf beruht hinsichtlich des Z 49 auf diesen Erwägungen.
49 stimmt mit 8 51 des jetzt geltenden Strafgesetzbuchs überein, nur enthielt
8 49 noch hinter den Worten „freie Willensbestimmung" den Zusatz „in
Beziehung auf die Handlung." Man wollte damit sagen, daß es nicht nötig
sei, festzustellen, daß die freie Willensbestimmung nach allen Richtungen hin
ausgeschlossen sei. Wenn der Arzt feststelle, daß Wahnidee», wenn auch nicht
in unmittelbar ursächlichen Zusammenhange mit der That und ihrem Zwecke
stehend, das geistige Bewußtsein des Thäters so gestört haben, daß er auch


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[0067] Zur Lehre von der strafrechtliche» Zurechnungsfähigkeit Ein Verbreche» oder Vergehen ist nicht vorhanden, wenn zur Zeit der That die freie Willensbestimmnng des Thäters ausgeschlossen war. Doch erregte diese Fassung wieder wegen ihrer Allgemeinheit, die große Gefahren für die Handhabung des Strafrechts herbeiführen konnte, Bedenken. Einerseits konnten die Gerichtsärzte die Willensfreiheit schon durch jede Leiden¬ schaft, jede Erregung u. dergl. als ausgeschlossen ansehen, anderseits konnten Richter nud Staatsnnwülte selbst beim Vorhandensein einer Geisteskrankheit die Willensfreiheit dann annehmen, wenn ein Einfluß der Wahnvorstellungen auf die That nicht nachweisbar war. Man wollte die Gründe genau angeben, in denen bei Entscheidung des einzelnen Falles die Ausschließung der freien Willensbestimmnng zu suchen sei. Einen großen Vorzug, meinte man, würde es nun darbieten, wenn die Hinstellung eines fest umschriebenen Thatbestandes möglich sei, und in der That lasse sich ein solcher für die durch äußern Zwang begründete Ausschließung der Zurechnungsfähigkeit hinstellen, dagegen sei dies bezüglich der Geisteskrankheiten nicht möglich oder wenigstens nicht ratsam. Die psychologischen Thatsachen ließen, weil sie im Innern des Menschen vor sich gehen, keine anschauliche und gemeinverständliche Bezeichnung zu, es gebe im Sprachgebrauch des gemeinen Lebens kein allgemein geläufiges Wort, wodurch die die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Geisteskrankheiten mit hinreichender Bestimmtheit zusammengefaßt und von andern Krankheiten getrennt würden. Zur Zeit sei es daher geboten, die in Betracht kommenden krank¬ haften Zustände' in das Gesetz aufzunehmen, und zwar in der sich am meisten empfehlenden Bezeichnung, anderseits aber die Notwendigkeit der Beziehung derselben auf den Ausschluß der freien Willensbestimmung hervorzuheben. Die Bezeichnung „krankhafte Störung der Geistesthätigkeit" sei von den vielen in Vorschlag gebrachten die passendste. Namentlich werde dadurch die gerichtsärztliche Aufgabe scharf umgrenzt, indem der Gerichtsarzt zunächst zu untersuchen habe, ob Krankheit vorhanden gewesen sei, wenn nicht, sich aller weitern Erörterungen zu enthalten habe. Neben der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit seien denn noch die auf die Willensfreiheit störend einwirkenden Zustände, die gewöhnlich nicht als Krankheit aufgefaßt würden, besonders zu nennen, und hierher sei der Ausdruck „Bewußtlosigkeit" der richtigste und gemeinverständlichste. Der zweite Entwurf beruht hinsichtlich des Z 49 auf diesen Erwägungen. 49 stimmt mit 8 51 des jetzt geltenden Strafgesetzbuchs überein, nur enthielt 8 49 noch hinter den Worten „freie Willensbestimmung" den Zusatz „in Beziehung auf die Handlung." Man wollte damit sagen, daß es nicht nötig sei, festzustellen, daß die freie Willensbestimmung nach allen Richtungen hin ausgeschlossen sei. Wenn der Arzt feststelle, daß Wahnidee», wenn auch nicht in unmittelbar ursächlichen Zusammenhange mit der That und ihrem Zwecke stehend, das geistige Bewußtsein des Thäters so gestört haben, daß er auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/67>, abgerufen am 12.05.2024.