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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

ete Staatsverfassung erscheint in dem Augenblick ihres Entstehens
als ein Kompromiß zwischen geschichtlichen Rechten und den
treibenden Kräften der Gegenwart. Auch eine einseitig erlassene,
"oktroyirte" Verfassung macht davon nnr scheinbar eine Aus¬
nahme.

Der Widerstreit der öffentlichen Kräfte läßt sich bei erstarrenden oder ab¬
sterbenden Völkern zu einem Stillstände bringen; bei lebenskräftigen dagegen
kann eine Verfassung nur die Bedeutung haben, daß sie außer deu Grund¬
pfeilern eine Auznhl von Wegweisern aufstellt, nach denen sich für eine längere
oder kürzere Dauer der Gang der öffentlichen Geschäfte zu richten hat. Hier
früher, dort später wird die nationale Entwicklung Bahnen einschlagen, für
die die alten Wegweiser nicht mehr genügen; man wird sie ausreißen und
dnrch neue ersetzen. Daß dieser Tag einmal kommen werde, ist übrigens in
den meisten Verfassungen selbst vorgesehen, denn sie geben Vorschriften dar¬
über, wie es bei einer Verfassungsänderung zu halten sei.

Dieses Sicherheitsventil gewährt dem deutschen Reiche der Artikel 78
seiner Verfassungsurkunde. Schon aus dem Vorhandellsein einer solchen Schutz¬
vorrichtung ergiebt sich aber nicht nnr das Recht, sondern auch die Pflicht,
sie in Zeiten der Gefahr in Thätigkeit zu setzen.

Die Entwicklung, die unser öffentliches Leben im letzten Jahrzehnt ge¬
nommen hat, muß dem Beobachter den Verdacht aufdrängen, daß einige der
alten Wegweiser nichts mehr taugen. Das gilt, wie mir scheint, an erster Stelle
von dem, der die Richtung angiebt, wie sich die Neichstagswahlcn zu voll¬
ziehen haben. Je mehr ich mich damit beschäftigte, diesen mir verdächtigen
Punkt zu prüfen, desto deutlicher erkannte ich, wie wertvoll es für eine der¬
artige Untersuchung sein müsse, den geschichtlichen Untergrund zu dem Artikel 20


Grenzbote" IV 1890 10


Das allgemeine Wahlrecht

ete Staatsverfassung erscheint in dem Augenblick ihres Entstehens
als ein Kompromiß zwischen geschichtlichen Rechten und den
treibenden Kräften der Gegenwart. Auch eine einseitig erlassene,
„oktroyirte" Verfassung macht davon nnr scheinbar eine Aus¬
nahme.

Der Widerstreit der öffentlichen Kräfte läßt sich bei erstarrenden oder ab¬
sterbenden Völkern zu einem Stillstände bringen; bei lebenskräftigen dagegen
kann eine Verfassung nur die Bedeutung haben, daß sie außer deu Grund¬
pfeilern eine Auznhl von Wegweisern aufstellt, nach denen sich für eine längere
oder kürzere Dauer der Gang der öffentlichen Geschäfte zu richten hat. Hier
früher, dort später wird die nationale Entwicklung Bahnen einschlagen, für
die die alten Wegweiser nicht mehr genügen; man wird sie ausreißen und
dnrch neue ersetzen. Daß dieser Tag einmal kommen werde, ist übrigens in
den meisten Verfassungen selbst vorgesehen, denn sie geben Vorschriften dar¬
über, wie es bei einer Verfassungsänderung zu halten sei.

Dieses Sicherheitsventil gewährt dem deutschen Reiche der Artikel 78
seiner Verfassungsurkunde. Schon aus dem Vorhandellsein einer solchen Schutz¬
vorrichtung ergiebt sich aber nicht nnr das Recht, sondern auch die Pflicht,
sie in Zeiten der Gefahr in Thätigkeit zu setzen.

Die Entwicklung, die unser öffentliches Leben im letzten Jahrzehnt ge¬
nommen hat, muß dem Beobachter den Verdacht aufdrängen, daß einige der
alten Wegweiser nichts mehr taugen. Das gilt, wie mir scheint, an erster Stelle
von dem, der die Richtung angiebt, wie sich die Neichstagswahlcn zu voll¬
ziehen haben. Je mehr ich mich damit beschäftigte, diesen mir verdächtigen
Punkt zu prüfen, desto deutlicher erkannte ich, wie wertvoll es für eine der¬
artige Untersuchung sein müsse, den geschichtlichen Untergrund zu dem Artikel 20


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[0153] [Abbildung] Das allgemeine Wahlrecht ete Staatsverfassung erscheint in dem Augenblick ihres Entstehens als ein Kompromiß zwischen geschichtlichen Rechten und den treibenden Kräften der Gegenwart. Auch eine einseitig erlassene, „oktroyirte" Verfassung macht davon nnr scheinbar eine Aus¬ nahme. Der Widerstreit der öffentlichen Kräfte läßt sich bei erstarrenden oder ab¬ sterbenden Völkern zu einem Stillstände bringen; bei lebenskräftigen dagegen kann eine Verfassung nur die Bedeutung haben, daß sie außer deu Grund¬ pfeilern eine Auznhl von Wegweisern aufstellt, nach denen sich für eine längere oder kürzere Dauer der Gang der öffentlichen Geschäfte zu richten hat. Hier früher, dort später wird die nationale Entwicklung Bahnen einschlagen, für die die alten Wegweiser nicht mehr genügen; man wird sie ausreißen und dnrch neue ersetzen. Daß dieser Tag einmal kommen werde, ist übrigens in den meisten Verfassungen selbst vorgesehen, denn sie geben Vorschriften dar¬ über, wie es bei einer Verfassungsänderung zu halten sei. Dieses Sicherheitsventil gewährt dem deutschen Reiche der Artikel 78 seiner Verfassungsurkunde. Schon aus dem Vorhandellsein einer solchen Schutz¬ vorrichtung ergiebt sich aber nicht nnr das Recht, sondern auch die Pflicht, sie in Zeiten der Gefahr in Thätigkeit zu setzen. Die Entwicklung, die unser öffentliches Leben im letzten Jahrzehnt ge¬ nommen hat, muß dem Beobachter den Verdacht aufdrängen, daß einige der alten Wegweiser nichts mehr taugen. Das gilt, wie mir scheint, an erster Stelle von dem, der die Richtung angiebt, wie sich die Neichstagswahlcn zu voll¬ ziehen haben. Je mehr ich mich damit beschäftigte, diesen mir verdächtigen Punkt zu prüfen, desto deutlicher erkannte ich, wie wertvoll es für eine der¬ artige Untersuchung sein müsse, den geschichtlichen Untergrund zu dem Artikel 20 Grenzbote» IV 1890 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/153>, abgerufen am 27.04.2024.