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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

der Reichsverfassung aufzudecken. Diese Arbeit förderte einige neue Ergebnisse
zu Tage. Das wichtigste ist die meines Wissens bisher nicht beachtete That¬
sache, daß unser Neichswahlgesetz, insofern es eingestandenermaßen auf die
Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung zurückgriff, einen bedenklichen
Irrtum zur Voraussetzung nahm. Denn der Sieg, den das allgemeine Wahl¬
recht in Frankfurt davontrug, erscheint bei scharfem Zusehen als eine Nieder¬
lage; ich glaube nachweisen zu können, daß die Mehrheit des Frankfurter
Parlaments jenen Grundsatz als verderblich ansah, und daß ihr Streben
nach einer Beschränkung desselben lediglich an einem widrigen Zufall ge¬
scheitert ist.

An den ersten Abschnitt der nachfolgenden Darstellung, der in kurzem
Überblick eine Geschichte des Wahlrechtes seit der französischen Revolution
versucht, soll sich eine Kritik anschließen, die eine Abänderung des Z 20 der
Reichsverfassung anregt und begründet. Ich verhehle mir nicht, daß gerade dieser
Teil vielfachen Widerspruch hervorrufen wird; aber ich heiße diesen Widerspruch
im voraus willkommen, denn die Frage, die ich stelle, rückt ihrer Lösung näher,
wenn die öffentliche Meinung veranlaßt wird, sich mit ihr zu beschäftigen.

Das allgemeine Wahlrecht, wie es durch den Artikel 20 der deutschen
Reichsverfassung verbürgt wird, ist eine verhältnismäßig junge Frucht der
staatsrechtlichen Entwicklung. Selbst Rousseau und Siehvs, deren politische
Ideen den Sturz der alten Staatsordnung wesentlich beschleunigten, haben die
Forderung eines unbeschränkten Wahlrechtes noch nicht gekannt.

Freilich schrieb Rousseau im zweiten Buche des Oontrat Lvoiul der Ge¬
samtheit der Bürger die Souveränität zu und verlangte dementsprechend für
alle ein gleiches Stimmrecht; aber dieses Stimmrecht des Genfer Philosophen
hat mit unserm Wahlrecht wenig gemein. Rousseau hatte sich bis zu einem
solchen Grade in deu Naturzustand der Menschheit verliebt, daß ihm der Ge¬
danke an eine Volksvertretung schon deshalb unerträglich erschien, weil sie eine
"Erfindung der Zivilisation" war. Nach dem Muster der Hellenen und der
Römer verlangte er vielmehr die unmittelbare Abstimmung des ganzen Volkes
über jedes einzelne Gesetz, eine Forderung, zu der ihn ohne Zweifel die Er¬
innerung an die kleinen politischen Verhältnisse seiner Heimat geführt hat.
Dabei übersah er gänzlich, daß eine derartige Einrichtung höchstens in einer
Gemeindeverfassung von Dauer sein kann, während sie sich in jedem aus¬
gedehnten Staatswesen von selbst verbietet.

Im Gegensatz zu dem Grundirrtum Rousseaus erklärte Siehvs eine auf
Stellvertreter des Volkes gestützte Verfassung als diejenige, die bei allen von
menschlichen Dingen unzertrennlichen Mängeln doch die meisten Vorteile ge¬
währe. Wir wollen sehen, wie er über die Wahl jener Stellvertreter gedacht hat.

Im letzten Teile der Schrift Hu'oft-vo quo 1v tivrL veut,? (Januar 1789)
verlangte Sieyös im Hinblick auf die im Mai desselben Jahres zusammen-


Das allgemeine Wahlrecht

der Reichsverfassung aufzudecken. Diese Arbeit förderte einige neue Ergebnisse
zu Tage. Das wichtigste ist die meines Wissens bisher nicht beachtete That¬
sache, daß unser Neichswahlgesetz, insofern es eingestandenermaßen auf die
Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung zurückgriff, einen bedenklichen
Irrtum zur Voraussetzung nahm. Denn der Sieg, den das allgemeine Wahl¬
recht in Frankfurt davontrug, erscheint bei scharfem Zusehen als eine Nieder¬
lage; ich glaube nachweisen zu können, daß die Mehrheit des Frankfurter
Parlaments jenen Grundsatz als verderblich ansah, und daß ihr Streben
nach einer Beschränkung desselben lediglich an einem widrigen Zufall ge¬
scheitert ist.

An den ersten Abschnitt der nachfolgenden Darstellung, der in kurzem
Überblick eine Geschichte des Wahlrechtes seit der französischen Revolution
versucht, soll sich eine Kritik anschließen, die eine Abänderung des Z 20 der
Reichsverfassung anregt und begründet. Ich verhehle mir nicht, daß gerade dieser
Teil vielfachen Widerspruch hervorrufen wird; aber ich heiße diesen Widerspruch
im voraus willkommen, denn die Frage, die ich stelle, rückt ihrer Lösung näher,
wenn die öffentliche Meinung veranlaßt wird, sich mit ihr zu beschäftigen.

Das allgemeine Wahlrecht, wie es durch den Artikel 20 der deutschen
Reichsverfassung verbürgt wird, ist eine verhältnismäßig junge Frucht der
staatsrechtlichen Entwicklung. Selbst Rousseau und Siehvs, deren politische
Ideen den Sturz der alten Staatsordnung wesentlich beschleunigten, haben die
Forderung eines unbeschränkten Wahlrechtes noch nicht gekannt.

Freilich schrieb Rousseau im zweiten Buche des Oontrat Lvoiul der Ge¬
samtheit der Bürger die Souveränität zu und verlangte dementsprechend für
alle ein gleiches Stimmrecht; aber dieses Stimmrecht des Genfer Philosophen
hat mit unserm Wahlrecht wenig gemein. Rousseau hatte sich bis zu einem
solchen Grade in deu Naturzustand der Menschheit verliebt, daß ihm der Ge¬
danke an eine Volksvertretung schon deshalb unerträglich erschien, weil sie eine
„Erfindung der Zivilisation" war. Nach dem Muster der Hellenen und der
Römer verlangte er vielmehr die unmittelbare Abstimmung des ganzen Volkes
über jedes einzelne Gesetz, eine Forderung, zu der ihn ohne Zweifel die Er¬
innerung an die kleinen politischen Verhältnisse seiner Heimat geführt hat.
Dabei übersah er gänzlich, daß eine derartige Einrichtung höchstens in einer
Gemeindeverfassung von Dauer sein kann, während sie sich in jedem aus¬
gedehnten Staatswesen von selbst verbietet.

Im Gegensatz zu dem Grundirrtum Rousseaus erklärte Siehvs eine auf
Stellvertreter des Volkes gestützte Verfassung als diejenige, die bei allen von
menschlichen Dingen unzertrennlichen Mängeln doch die meisten Vorteile ge¬
währe. Wir wollen sehen, wie er über die Wahl jener Stellvertreter gedacht hat.

Im letzten Teile der Schrift Hu'oft-vo quo 1v tivrL veut,? (Januar 1789)
verlangte Sieyös im Hinblick auf die im Mai desselben Jahres zusammen-


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[0154] Das allgemeine Wahlrecht der Reichsverfassung aufzudecken. Diese Arbeit förderte einige neue Ergebnisse zu Tage. Das wichtigste ist die meines Wissens bisher nicht beachtete That¬ sache, daß unser Neichswahlgesetz, insofern es eingestandenermaßen auf die Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung zurückgriff, einen bedenklichen Irrtum zur Voraussetzung nahm. Denn der Sieg, den das allgemeine Wahl¬ recht in Frankfurt davontrug, erscheint bei scharfem Zusehen als eine Nieder¬ lage; ich glaube nachweisen zu können, daß die Mehrheit des Frankfurter Parlaments jenen Grundsatz als verderblich ansah, und daß ihr Streben nach einer Beschränkung desselben lediglich an einem widrigen Zufall ge¬ scheitert ist. An den ersten Abschnitt der nachfolgenden Darstellung, der in kurzem Überblick eine Geschichte des Wahlrechtes seit der französischen Revolution versucht, soll sich eine Kritik anschließen, die eine Abänderung des Z 20 der Reichsverfassung anregt und begründet. Ich verhehle mir nicht, daß gerade dieser Teil vielfachen Widerspruch hervorrufen wird; aber ich heiße diesen Widerspruch im voraus willkommen, denn die Frage, die ich stelle, rückt ihrer Lösung näher, wenn die öffentliche Meinung veranlaßt wird, sich mit ihr zu beschäftigen. Das allgemeine Wahlrecht, wie es durch den Artikel 20 der deutschen Reichsverfassung verbürgt wird, ist eine verhältnismäßig junge Frucht der staatsrechtlichen Entwicklung. Selbst Rousseau und Siehvs, deren politische Ideen den Sturz der alten Staatsordnung wesentlich beschleunigten, haben die Forderung eines unbeschränkten Wahlrechtes noch nicht gekannt. Freilich schrieb Rousseau im zweiten Buche des Oontrat Lvoiul der Ge¬ samtheit der Bürger die Souveränität zu und verlangte dementsprechend für alle ein gleiches Stimmrecht; aber dieses Stimmrecht des Genfer Philosophen hat mit unserm Wahlrecht wenig gemein. Rousseau hatte sich bis zu einem solchen Grade in deu Naturzustand der Menschheit verliebt, daß ihm der Ge¬ danke an eine Volksvertretung schon deshalb unerträglich erschien, weil sie eine „Erfindung der Zivilisation" war. Nach dem Muster der Hellenen und der Römer verlangte er vielmehr die unmittelbare Abstimmung des ganzen Volkes über jedes einzelne Gesetz, eine Forderung, zu der ihn ohne Zweifel die Er¬ innerung an die kleinen politischen Verhältnisse seiner Heimat geführt hat. Dabei übersah er gänzlich, daß eine derartige Einrichtung höchstens in einer Gemeindeverfassung von Dauer sein kann, während sie sich in jedem aus¬ gedehnten Staatswesen von selbst verbietet. Im Gegensatz zu dem Grundirrtum Rousseaus erklärte Siehvs eine auf Stellvertreter des Volkes gestützte Verfassung als diejenige, die bei allen von menschlichen Dingen unzertrennlichen Mängeln doch die meisten Vorteile ge¬ währe. Wir wollen sehen, wie er über die Wahl jener Stellvertreter gedacht hat. Im letzten Teile der Schrift Hu'oft-vo quo 1v tivrL veut,? (Januar 1789) verlangte Sieyös im Hinblick auf die im Mai desselben Jahres zusammen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/154>, abgerufen am 12.05.2024.