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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Vlüten und Früchte der Moderne

bwohl zik dem absterbenden Geschlechte gehörend, das "die
Moderne" nicht zu würdigen vermag, tun ich doch nicht ohne
Bildungsbedürfnis und nicht so verstockt, um den Verkündigern
des neuen Evangeliums grundsätzlich aus dem Wege zu gehen,
Tempel genug sind ja jetzt aufgerichtet, in denen mit feurigen
Zungen gepredigt wird. Da sitzen im hohen Chöre die Priester und Priesterinnen
Kopf an Kopf gedrängt, und wie der Geist über einen kommt, erhebt er sich,
um Bannflüche zu schleudern auf das verrottete neunzehnte Jahrhundert, die
schändliche Gesellschaft, das elende Christentum. Vebeud erwarten wir, die
heilige Schar werde um alles umstürzen, was ist, damit Raum werde sür das
himmlische Reich ans Erden ohne Armut, ohne Krankheit, ohne Arbeit, ohne
Glauben, ohne Liebe, ohne Gesetz, ohne Scham u. s. w. Allein sie begnügen
sich, feierlich zu nicken und zu singen: Ja, du bist groß, wir sind groß, wir
sind die neue Zeit, Heil uus! Uiid daini geht uiisereins zerkiiirscht von dannen,
weil er die neue Wahrheit wieder nicht verstanden hat.

Ohne Bild: eine ganze Reihe von neuen Wochen- und Monatsschriften
in Deutschland widmet sich ausschließlich der Verbreitung der Lehre, daß ein
neuer Tag anbreche, oder vielmehr der Tag nach der Nacht, die seit Anbeginn
über dem Lande gelegen hat, der Tag der Freiheit nach der vieltausendjährigen
Sklaverei. So oft ein neues Heft kommt, hofft man endlich zu erfahren, wie
das sündige, verkommene Geschlecht, zu dem wir noch gehören, emporgehoben
werden soll zu der reinen Höhe der Modernen; doch lassen sie sich leider dazu
nicht herab. Es bleibt ihnen vielleicht keine Zeit, da sie unablässig ihren Zorn
und Hohn in Reime bringen oder sich gegenseitig verherrlichen müssen. Denn
so gründlich ihr Abscheu vor aller Reklame ist, halten sie doch treulich zu¬
sammen, und wenn A den B "gewaltig" genannt hat, so nennt B den A
einen "Heros" und C den A und den B "Titanen" u. s. w. Diese gute
.Kameradschaft ist gewiß lobenswert, möge sie nur länger vorhalten als bei
dem ersten jungen Deutschland! So lange das jung war," bewunderten und
lobten die Gutzkow, Laube u. s. w. einander auch nach .Kräften, aber als das
gegenseitige Händewaschen seinen Zweck erfüllt hatte, stand einer dem andern
in der Sonne, und die Freundschaft schlug in Neid und Haß um.




Vlüten und Früchte der Moderne

bwohl zik dem absterbenden Geschlechte gehörend, das „die
Moderne" nicht zu würdigen vermag, tun ich doch nicht ohne
Bildungsbedürfnis und nicht so verstockt, um den Verkündigern
des neuen Evangeliums grundsätzlich aus dem Wege zu gehen,
Tempel genug sind ja jetzt aufgerichtet, in denen mit feurigen
Zungen gepredigt wird. Da sitzen im hohen Chöre die Priester und Priesterinnen
Kopf an Kopf gedrängt, und wie der Geist über einen kommt, erhebt er sich,
um Bannflüche zu schleudern auf das verrottete neunzehnte Jahrhundert, die
schändliche Gesellschaft, das elende Christentum. Vebeud erwarten wir, die
heilige Schar werde um alles umstürzen, was ist, damit Raum werde sür das
himmlische Reich ans Erden ohne Armut, ohne Krankheit, ohne Arbeit, ohne
Glauben, ohne Liebe, ohne Gesetz, ohne Scham u. s. w. Allein sie begnügen
sich, feierlich zu nicken und zu singen: Ja, du bist groß, wir sind groß, wir
sind die neue Zeit, Heil uus! Uiid daini geht uiisereins zerkiiirscht von dannen,
weil er die neue Wahrheit wieder nicht verstanden hat.

Ohne Bild: eine ganze Reihe von neuen Wochen- und Monatsschriften
in Deutschland widmet sich ausschließlich der Verbreitung der Lehre, daß ein
neuer Tag anbreche, oder vielmehr der Tag nach der Nacht, die seit Anbeginn
über dem Lande gelegen hat, der Tag der Freiheit nach der vieltausendjährigen
Sklaverei. So oft ein neues Heft kommt, hofft man endlich zu erfahren, wie
das sündige, verkommene Geschlecht, zu dem wir noch gehören, emporgehoben
werden soll zu der reinen Höhe der Modernen; doch lassen sie sich leider dazu
nicht herab. Es bleibt ihnen vielleicht keine Zeit, da sie unablässig ihren Zorn
und Hohn in Reime bringen oder sich gegenseitig verherrlichen müssen. Denn
so gründlich ihr Abscheu vor aller Reklame ist, halten sie doch treulich zu¬
sammen, und wenn A den B „gewaltig" genannt hat, so nennt B den A
einen „Heros" und C den A und den B „Titanen" u. s. w. Diese gute
.Kameradschaft ist gewiß lobenswert, möge sie nur länger vorhalten als bei
dem ersten jungen Deutschland! So lange das jung war," bewunderten und
lobten die Gutzkow, Laube u. s. w. einander auch nach .Kräften, aber als das
gegenseitige Händewaschen seinen Zweck erfüllt hatte, stand einer dem andern
in der Sonne, und die Freundschaft schlug in Neid und Haß um.


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[0482] [Abbildung] Vlüten und Früchte der Moderne bwohl zik dem absterbenden Geschlechte gehörend, das „die Moderne" nicht zu würdigen vermag, tun ich doch nicht ohne Bildungsbedürfnis und nicht so verstockt, um den Verkündigern des neuen Evangeliums grundsätzlich aus dem Wege zu gehen, Tempel genug sind ja jetzt aufgerichtet, in denen mit feurigen Zungen gepredigt wird. Da sitzen im hohen Chöre die Priester und Priesterinnen Kopf an Kopf gedrängt, und wie der Geist über einen kommt, erhebt er sich, um Bannflüche zu schleudern auf das verrottete neunzehnte Jahrhundert, die schändliche Gesellschaft, das elende Christentum. Vebeud erwarten wir, die heilige Schar werde um alles umstürzen, was ist, damit Raum werde sür das himmlische Reich ans Erden ohne Armut, ohne Krankheit, ohne Arbeit, ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Gesetz, ohne Scham u. s. w. Allein sie begnügen sich, feierlich zu nicken und zu singen: Ja, du bist groß, wir sind groß, wir sind die neue Zeit, Heil uus! Uiid daini geht uiisereins zerkiiirscht von dannen, weil er die neue Wahrheit wieder nicht verstanden hat. Ohne Bild: eine ganze Reihe von neuen Wochen- und Monatsschriften in Deutschland widmet sich ausschließlich der Verbreitung der Lehre, daß ein neuer Tag anbreche, oder vielmehr der Tag nach der Nacht, die seit Anbeginn über dem Lande gelegen hat, der Tag der Freiheit nach der vieltausendjährigen Sklaverei. So oft ein neues Heft kommt, hofft man endlich zu erfahren, wie das sündige, verkommene Geschlecht, zu dem wir noch gehören, emporgehoben werden soll zu der reinen Höhe der Modernen; doch lassen sie sich leider dazu nicht herab. Es bleibt ihnen vielleicht keine Zeit, da sie unablässig ihren Zorn und Hohn in Reime bringen oder sich gegenseitig verherrlichen müssen. Denn so gründlich ihr Abscheu vor aller Reklame ist, halten sie doch treulich zu¬ sammen, und wenn A den B „gewaltig" genannt hat, so nennt B den A einen „Heros" und C den A und den B „Titanen" u. s. w. Diese gute .Kameradschaft ist gewiß lobenswert, möge sie nur länger vorhalten als bei dem ersten jungen Deutschland! So lange das jung war," bewunderten und lobten die Gutzkow, Laube u. s. w. einander auch nach .Kräften, aber als das gegenseitige Händewaschen seinen Zweck erfüllt hatte, stand einer dem andern in der Sonne, und die Freundschaft schlug in Neid und Haß um.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/482>, abgerufen am 28.04.2024.