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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das öffentliche Unterstützungswesen
in Elsaß-Lothringen

le Aufsehen erregende Entscheidung, die das bairische Verwaltungs-
gericht kürzlich in einer Armensache gefällt hat, und der zufolge
eine in Preußen rechtsgiltig geschlossene Ehe auf Grund des
bairischen Heimatrechts für ungiltig erklärt worden ist, muß die
öffentliche Aufmerksamkeit von neuem auf die Rechtsverschieden¬
heiten lenken, die ans diesem Gebiete zur Zeit noch im deutschen Reiche be¬
stehen, lind da wird es auf größere Kreise sicher überraschend wirken, wenn
sie hören, daß von den beiden Rechtsgebieten, die nicht unter das Gesetz über
den Unterstützungswohnsitz fallen, Baiern mit seinem auf einem Ncservatrecht
beruhenden Heimatsrechte der Gesetzgebung des übrigen Deutschland in seinen
Grundsätzen weit näher steht als die wiedergewonnenen Reichslande, denen
gegenüber das Reich bei der Einführung seiner Gesetze durch keinerlei Rück¬
sichten auf Sonderrechte gehemmt ist. Es ist nur aus der vielfach hervor¬
gehobenen Reformbedürstigkeit des deutschen Unterstützungswohnsitzgesetzes zu
erklären, daß ein fremder Rechtszustand in Elsaß-Lothringen gerade auf diesem
Gebiete bestehen bleiben konnte, das die Rechtseinheit mehr als jedes andre
erheischt, schon um zu vermeiden, daß unsre wiedergewonnenen Landsleute in
irgend einer Beziehung sich Altdeutschland gegenüber als Ausländer zu be¬
trachten in der Lage wären. Ausländer aber sind die Elsaß-Lothringer auf dem
Gebiete der Armenpflege im übrigen deutscheu Reiche, wie sich umgekehrt auch
die Altdeutschen bezüglich ihrer Unfähigkeit, in Elsaß-Lothringen einen Unter-
stützungswohnsitz zu erwerben, mit jedem Ausländer in gleicher Lage befinden.

Das Gesetz über die Freizügigkeit ist freilich auch hier ebenso wie in
Baiern eingeführt. Es kann deshalb eine Gemeinde einen neu Anziehenden,
ohne Unterschied, ob es sich um Altdeutsche oder um Elsaß-Lothringer handelt,
nach § 4 dieses Gesetzes nur abweisen, wenn sie nachweisen kann, daß er nicht
hinreichende Kräfte besitzt, um sich und seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen
den notdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen, und wenn er solchen weder
aus eignen Vermögen bestreiten kann, noch von einem dazu verpflichteten
Verwandten erhält. Einen Unterstützungswohnsitz kann aber der Altdeutsche,
so lange er nicht die elsaß-lothringische Landesangehörigkeit erwirbt, dort nie




Das öffentliche Unterstützungswesen
in Elsaß-Lothringen

le Aufsehen erregende Entscheidung, die das bairische Verwaltungs-
gericht kürzlich in einer Armensache gefällt hat, und der zufolge
eine in Preußen rechtsgiltig geschlossene Ehe auf Grund des
bairischen Heimatrechts für ungiltig erklärt worden ist, muß die
öffentliche Aufmerksamkeit von neuem auf die Rechtsverschieden¬
heiten lenken, die ans diesem Gebiete zur Zeit noch im deutschen Reiche be¬
stehen, lind da wird es auf größere Kreise sicher überraschend wirken, wenn
sie hören, daß von den beiden Rechtsgebieten, die nicht unter das Gesetz über
den Unterstützungswohnsitz fallen, Baiern mit seinem auf einem Ncservatrecht
beruhenden Heimatsrechte der Gesetzgebung des übrigen Deutschland in seinen
Grundsätzen weit näher steht als die wiedergewonnenen Reichslande, denen
gegenüber das Reich bei der Einführung seiner Gesetze durch keinerlei Rück¬
sichten auf Sonderrechte gehemmt ist. Es ist nur aus der vielfach hervor¬
gehobenen Reformbedürstigkeit des deutschen Unterstützungswohnsitzgesetzes zu
erklären, daß ein fremder Rechtszustand in Elsaß-Lothringen gerade auf diesem
Gebiete bestehen bleiben konnte, das die Rechtseinheit mehr als jedes andre
erheischt, schon um zu vermeiden, daß unsre wiedergewonnenen Landsleute in
irgend einer Beziehung sich Altdeutschland gegenüber als Ausländer zu be¬
trachten in der Lage wären. Ausländer aber sind die Elsaß-Lothringer auf dem
Gebiete der Armenpflege im übrigen deutscheu Reiche, wie sich umgekehrt auch
die Altdeutschen bezüglich ihrer Unfähigkeit, in Elsaß-Lothringen einen Unter-
stützungswohnsitz zu erwerben, mit jedem Ausländer in gleicher Lage befinden.

Das Gesetz über die Freizügigkeit ist freilich auch hier ebenso wie in
Baiern eingeführt. Es kann deshalb eine Gemeinde einen neu Anziehenden,
ohne Unterschied, ob es sich um Altdeutsche oder um Elsaß-Lothringer handelt,
nach § 4 dieses Gesetzes nur abweisen, wenn sie nachweisen kann, daß er nicht
hinreichende Kräfte besitzt, um sich und seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen
den notdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen, und wenn er solchen weder
aus eignen Vermögen bestreiten kann, noch von einem dazu verpflichteten
Verwandten erhält. Einen Unterstützungswohnsitz kann aber der Altdeutsche,
so lange er nicht die elsaß-lothringische Landesangehörigkeit erwirbt, dort nie


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[0512] [Abbildung] Das öffentliche Unterstützungswesen in Elsaß-Lothringen le Aufsehen erregende Entscheidung, die das bairische Verwaltungs- gericht kürzlich in einer Armensache gefällt hat, und der zufolge eine in Preußen rechtsgiltig geschlossene Ehe auf Grund des bairischen Heimatrechts für ungiltig erklärt worden ist, muß die öffentliche Aufmerksamkeit von neuem auf die Rechtsverschieden¬ heiten lenken, die ans diesem Gebiete zur Zeit noch im deutschen Reiche be¬ stehen, lind da wird es auf größere Kreise sicher überraschend wirken, wenn sie hören, daß von den beiden Rechtsgebieten, die nicht unter das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz fallen, Baiern mit seinem auf einem Ncservatrecht beruhenden Heimatsrechte der Gesetzgebung des übrigen Deutschland in seinen Grundsätzen weit näher steht als die wiedergewonnenen Reichslande, denen gegenüber das Reich bei der Einführung seiner Gesetze durch keinerlei Rück¬ sichten auf Sonderrechte gehemmt ist. Es ist nur aus der vielfach hervor¬ gehobenen Reformbedürstigkeit des deutschen Unterstützungswohnsitzgesetzes zu erklären, daß ein fremder Rechtszustand in Elsaß-Lothringen gerade auf diesem Gebiete bestehen bleiben konnte, das die Rechtseinheit mehr als jedes andre erheischt, schon um zu vermeiden, daß unsre wiedergewonnenen Landsleute in irgend einer Beziehung sich Altdeutschland gegenüber als Ausländer zu be¬ trachten in der Lage wären. Ausländer aber sind die Elsaß-Lothringer auf dem Gebiete der Armenpflege im übrigen deutscheu Reiche, wie sich umgekehrt auch die Altdeutschen bezüglich ihrer Unfähigkeit, in Elsaß-Lothringen einen Unter- stützungswohnsitz zu erwerben, mit jedem Ausländer in gleicher Lage befinden. Das Gesetz über die Freizügigkeit ist freilich auch hier ebenso wie in Baiern eingeführt. Es kann deshalb eine Gemeinde einen neu Anziehenden, ohne Unterschied, ob es sich um Altdeutsche oder um Elsaß-Lothringer handelt, nach § 4 dieses Gesetzes nur abweisen, wenn sie nachweisen kann, daß er nicht hinreichende Kräfte besitzt, um sich und seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen den notdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen, und wenn er solchen weder aus eignen Vermögen bestreiten kann, noch von einem dazu verpflichteten Verwandten erhält. Einen Unterstützungswohnsitz kann aber der Altdeutsche, so lange er nicht die elsaß-lothringische Landesangehörigkeit erwirbt, dort nie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/512>, abgerufen am 28.04.2024.