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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Nach dem ersten Oktober

eutschlaud hat während der Jahre 1870 bis 1890 eine Periode
der Macht, des Glanzes, des Reichtums und der bürgerliche"
Freiheit durchlebt, wie es eine gleiche nie zuvor in seiner Ge¬
schichte gehabt hat. Aber diese glückliche Zeit hat doch Keime
schwerer Übel in sich getragen. Der zu nehmende Reichtum
hat bei allen Ständen die Sucht nach Wohlleben, bei den niedern Ständen
insbesondre aber den Neid und die Begehrlichkeit nach den Gütern der höher"
geweckt und gesteigert. Für die ans diese bösen Leidenschaften gegründeten
Triebe hat man ein Shstem erfunden, das sie mit einem gewissen Schein der
Berechtigung umgiebt. Die Mittel, die die bürgerliche Freiheit an die Hand
gab, gestatteten, die Truglehren dieses Systems weit in die Massen des Volkes
hineinzutragen. Damit ist die größte Gefahr erwachse", die jemals die bürger¬
liche Gesellschaft bedroht hat/ Das ist die Sozialdemokratie. Alle frühern
Revolutionen waren im wesentlichen Kämpfe um die politische Gewalt. Die
Sozialdemokratie droht mit einer Revolution wider das Eigentum und damit
wider die ganze Grundlage unsrer Kultur. Einen gewissen Schutz gegen die
wachsende Gefahr gewährte das Svzialisteugesetz. Hat es auch nicht die Sozial¬
demokratin unterdrücken können, so hat es doch wesentlich ihre Ausbreitung,
namentlich auf die Kreise der ländlichen Bevölkerung, gehindert oder erschwert.
Unter seinem Schutze blieb das öffentliche Vertrauen erhalten, das dem fried¬
lichen Bürger ermöglichte, andauernd für seine" Wohlstand und damit zugleich
für den Wohlstand der Nation fortzuarbeiten.

Seit dein ersten Oktober ist das anders geworden. Das Sozialistengesetz
ist gefallen. Das Evangelium des Umsturzes darf wieder von allen Dächern
gepredigt werden.


Grenzboten IV 1890 7


Nach dem ersten Oktober

eutschlaud hat während der Jahre 1870 bis 1890 eine Periode
der Macht, des Glanzes, des Reichtums und der bürgerliche»
Freiheit durchlebt, wie es eine gleiche nie zuvor in seiner Ge¬
schichte gehabt hat. Aber diese glückliche Zeit hat doch Keime
schwerer Übel in sich getragen. Der zu nehmende Reichtum
hat bei allen Ständen die Sucht nach Wohlleben, bei den niedern Ständen
insbesondre aber den Neid und die Begehrlichkeit nach den Gütern der höher»
geweckt und gesteigert. Für die ans diese bösen Leidenschaften gegründeten
Triebe hat man ein Shstem erfunden, das sie mit einem gewissen Schein der
Berechtigung umgiebt. Die Mittel, die die bürgerliche Freiheit an die Hand
gab, gestatteten, die Truglehren dieses Systems weit in die Massen des Volkes
hineinzutragen. Damit ist die größte Gefahr erwachse», die jemals die bürger¬
liche Gesellschaft bedroht hat/ Das ist die Sozialdemokratie. Alle frühern
Revolutionen waren im wesentlichen Kämpfe um die politische Gewalt. Die
Sozialdemokratie droht mit einer Revolution wider das Eigentum und damit
wider die ganze Grundlage unsrer Kultur. Einen gewissen Schutz gegen die
wachsende Gefahr gewährte das Svzialisteugesetz. Hat es auch nicht die Sozial¬
demokratin unterdrücken können, so hat es doch wesentlich ihre Ausbreitung,
namentlich auf die Kreise der ländlichen Bevölkerung, gehindert oder erschwert.
Unter seinem Schutze blieb das öffentliche Vertrauen erhalten, das dem fried¬
lichen Bürger ermöglichte, andauernd für seine» Wohlstand und damit zugleich
für den Wohlstand der Nation fortzuarbeiten.

Seit dein ersten Oktober ist das anders geworden. Das Sozialistengesetz
ist gefallen. Das Evangelium des Umsturzes darf wieder von allen Dächern
gepredigt werden.


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[0057] [Abbildung] Nach dem ersten Oktober eutschlaud hat während der Jahre 1870 bis 1890 eine Periode der Macht, des Glanzes, des Reichtums und der bürgerliche» Freiheit durchlebt, wie es eine gleiche nie zuvor in seiner Ge¬ schichte gehabt hat. Aber diese glückliche Zeit hat doch Keime schwerer Übel in sich getragen. Der zu nehmende Reichtum hat bei allen Ständen die Sucht nach Wohlleben, bei den niedern Ständen insbesondre aber den Neid und die Begehrlichkeit nach den Gütern der höher» geweckt und gesteigert. Für die ans diese bösen Leidenschaften gegründeten Triebe hat man ein Shstem erfunden, das sie mit einem gewissen Schein der Berechtigung umgiebt. Die Mittel, die die bürgerliche Freiheit an die Hand gab, gestatteten, die Truglehren dieses Systems weit in die Massen des Volkes hineinzutragen. Damit ist die größte Gefahr erwachse», die jemals die bürger¬ liche Gesellschaft bedroht hat/ Das ist die Sozialdemokratie. Alle frühern Revolutionen waren im wesentlichen Kämpfe um die politische Gewalt. Die Sozialdemokratie droht mit einer Revolution wider das Eigentum und damit wider die ganze Grundlage unsrer Kultur. Einen gewissen Schutz gegen die wachsende Gefahr gewährte das Svzialisteugesetz. Hat es auch nicht die Sozial¬ demokratin unterdrücken können, so hat es doch wesentlich ihre Ausbreitung, namentlich auf die Kreise der ländlichen Bevölkerung, gehindert oder erschwert. Unter seinem Schutze blieb das öffentliche Vertrauen erhalten, das dem fried¬ lichen Bürger ermöglichte, andauernd für seine» Wohlstand und damit zugleich für den Wohlstand der Nation fortzuarbeiten. Seit dein ersten Oktober ist das anders geworden. Das Sozialistengesetz ist gefallen. Das Evangelium des Umsturzes darf wieder von allen Dächern gepredigt werden. Grenzboten IV 1890 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/57>, abgerufen am 28.04.2024.