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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Nach dem ersten Gktober

Die nächste Folge dieser Änderung bewegt sich in zwei Richtungen. Der
Mut der Sozialdemokratie ist in hohem Maße gestiegen. "Seht -- rufen die
Führer ihren Anhängern zu --, das haben nur schon erreicht, daß man nicht
mehr wagt, unsre Lehre zu unterdrücken. Nun dürfen nur wieder frei arbeiten
und alles für den großen Tag vorbereiten, wo die Bourgeoisie fallen muß."

In gleichem Maße aber, wie der Mut der Sozialdemokraten gewachsen
ist, ist Entmutigung in den Reihen der ruhigen Bürger eingetreten. "Was
soll aus der Sache werden, wenn der Staat in dem Kampfe gegen die Sozial-
demokratie zurückweicht?" So frugen, wenn auch nur im Stillen, unzählige
Vaterlandsfreunde. Vergebens suchen die, die uns politischer Verblendung oder
auch vielleicht uur aus Haß gegen die damaligen Träger der Negierung das
Sozialistengesetz bekämpften, mit allerhand Trostgründen die weit verbreitete
Empfindung zu dämpfen. Sie besteht und läßt sich nicht hinwegleugnen.
Man sagt, es sei ein Unglück gewesen, daß durch das Sozialistengesetz die
Bürger sich in eine falsche Sicherheit hätten einwiegen lassen. Das mag in
gewissem Sinne richtig fein. Aber Deutschland hat sich doch bei dieser Be¬
ruhigung nicht schlecht gestanden. Und jedenfalls ist es eine seltsame Heil¬
methode, wenn man, um jemandem das Bewußtsein der Gefahr beizubringen,
die Gefahr selbst steigert. Nun sagt man freilich: Die Bürger sollen jetzt den
Kampf gegen die Sozialdemokratie selbst aufnehmen und dadurch die Gefahr
abwenden. Mau giebt sich der Hoffnung hin, die Svzialdemokrntie werde
endlich, da sie wieder das freie Wort habe, "in ruhiger Sprache" das Wesen
ihres kommunistischen Staates darlegen; und daun sei es Aufgabe der übrige"
Parteien, zu zeigen, daß ein solcher Staat unmöglich sei. Darnach soll dann
der Abfall der großen Massen von der sozialdemokratischen Lehre zu hoffen
sein. Es ist wirklich schwer, über solche Hoffnungen ernsthaft zu reden. Aka¬
demische Erörterungen haben weder die Sozialdemokratie geschaffen, noch werden
sie sie tot machen. Was sollen denn die Bürger thun, um den Kampf zu
führen? Sollen sie Broschüren und Zeitungsartikel schreiben, die doch nicht
gelesen werden? Oder sollen sie in die sozialdemokratischen Versammlungen
gehen und Gegenreden halten, um bei den ersten Worten hinausgeworfen zu
werden? Durch die Kulturarbeit von Jahrhunderten glaubte mau es dahin
gebracht zu haben, daß den Schutz gegen Roheit und Bestialität der Staat in
die Hand nehme und nicht seine Bürger auf den bloßen Selbstschutz verweise.
Mit eiuer so wüsten Agitation, wie der sozialdemokratischen, kauu der ruhige
und vor allem der gebildete Mann nimmer in Konkurrenz treten.

Was die Sozialdemokraten wollen, das ist doch wohl durch ihre Kund-
gebungen klar genug. Es uicht uoch klarer auszusprechen, dazu haben sie ihre
guten Gründe. Sie wollen den Besitzenden ihr Vermöge" nehmen und,
wenn diese sich widersetzen, kurzen Prozeß mit ihnen machen. Dem Namen
"ach soll ihnen ihr Vermögen genommen werden, um als "Gemeingut der


Nach dem ersten Gktober

Die nächste Folge dieser Änderung bewegt sich in zwei Richtungen. Der
Mut der Sozialdemokratie ist in hohem Maße gestiegen. „Seht — rufen die
Führer ihren Anhängern zu —, das haben nur schon erreicht, daß man nicht
mehr wagt, unsre Lehre zu unterdrücken. Nun dürfen nur wieder frei arbeiten
und alles für den großen Tag vorbereiten, wo die Bourgeoisie fallen muß."

In gleichem Maße aber, wie der Mut der Sozialdemokraten gewachsen
ist, ist Entmutigung in den Reihen der ruhigen Bürger eingetreten. „Was
soll aus der Sache werden, wenn der Staat in dem Kampfe gegen die Sozial-
demokratie zurückweicht?" So frugen, wenn auch nur im Stillen, unzählige
Vaterlandsfreunde. Vergebens suchen die, die uns politischer Verblendung oder
auch vielleicht uur aus Haß gegen die damaligen Träger der Negierung das
Sozialistengesetz bekämpften, mit allerhand Trostgründen die weit verbreitete
Empfindung zu dämpfen. Sie besteht und läßt sich nicht hinwegleugnen.
Man sagt, es sei ein Unglück gewesen, daß durch das Sozialistengesetz die
Bürger sich in eine falsche Sicherheit hätten einwiegen lassen. Das mag in
gewissem Sinne richtig fein. Aber Deutschland hat sich doch bei dieser Be¬
ruhigung nicht schlecht gestanden. Und jedenfalls ist es eine seltsame Heil¬
methode, wenn man, um jemandem das Bewußtsein der Gefahr beizubringen,
die Gefahr selbst steigert. Nun sagt man freilich: Die Bürger sollen jetzt den
Kampf gegen die Sozialdemokratie selbst aufnehmen und dadurch die Gefahr
abwenden. Mau giebt sich der Hoffnung hin, die Svzialdemokrntie werde
endlich, da sie wieder das freie Wort habe, „in ruhiger Sprache" das Wesen
ihres kommunistischen Staates darlegen; und daun sei es Aufgabe der übrige»
Parteien, zu zeigen, daß ein solcher Staat unmöglich sei. Darnach soll dann
der Abfall der großen Massen von der sozialdemokratischen Lehre zu hoffen
sein. Es ist wirklich schwer, über solche Hoffnungen ernsthaft zu reden. Aka¬
demische Erörterungen haben weder die Sozialdemokratie geschaffen, noch werden
sie sie tot machen. Was sollen denn die Bürger thun, um den Kampf zu
führen? Sollen sie Broschüren und Zeitungsartikel schreiben, die doch nicht
gelesen werden? Oder sollen sie in die sozialdemokratischen Versammlungen
gehen und Gegenreden halten, um bei den ersten Worten hinausgeworfen zu
werden? Durch die Kulturarbeit von Jahrhunderten glaubte mau es dahin
gebracht zu haben, daß den Schutz gegen Roheit und Bestialität der Staat in
die Hand nehme und nicht seine Bürger auf den bloßen Selbstschutz verweise.
Mit eiuer so wüsten Agitation, wie der sozialdemokratischen, kauu der ruhige
und vor allem der gebildete Mann nimmer in Konkurrenz treten.

Was die Sozialdemokraten wollen, das ist doch wohl durch ihre Kund-
gebungen klar genug. Es uicht uoch klarer auszusprechen, dazu haben sie ihre
guten Gründe. Sie wollen den Besitzenden ihr Vermöge« nehmen und,
wenn diese sich widersetzen, kurzen Prozeß mit ihnen machen. Dem Namen
»ach soll ihnen ihr Vermögen genommen werden, um als „Gemeingut der


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[0058] Nach dem ersten Gktober Die nächste Folge dieser Änderung bewegt sich in zwei Richtungen. Der Mut der Sozialdemokratie ist in hohem Maße gestiegen. „Seht — rufen die Führer ihren Anhängern zu —, das haben nur schon erreicht, daß man nicht mehr wagt, unsre Lehre zu unterdrücken. Nun dürfen nur wieder frei arbeiten und alles für den großen Tag vorbereiten, wo die Bourgeoisie fallen muß." In gleichem Maße aber, wie der Mut der Sozialdemokraten gewachsen ist, ist Entmutigung in den Reihen der ruhigen Bürger eingetreten. „Was soll aus der Sache werden, wenn der Staat in dem Kampfe gegen die Sozial- demokratie zurückweicht?" So frugen, wenn auch nur im Stillen, unzählige Vaterlandsfreunde. Vergebens suchen die, die uns politischer Verblendung oder auch vielleicht uur aus Haß gegen die damaligen Träger der Negierung das Sozialistengesetz bekämpften, mit allerhand Trostgründen die weit verbreitete Empfindung zu dämpfen. Sie besteht und läßt sich nicht hinwegleugnen. Man sagt, es sei ein Unglück gewesen, daß durch das Sozialistengesetz die Bürger sich in eine falsche Sicherheit hätten einwiegen lassen. Das mag in gewissem Sinne richtig fein. Aber Deutschland hat sich doch bei dieser Be¬ ruhigung nicht schlecht gestanden. Und jedenfalls ist es eine seltsame Heil¬ methode, wenn man, um jemandem das Bewußtsein der Gefahr beizubringen, die Gefahr selbst steigert. Nun sagt man freilich: Die Bürger sollen jetzt den Kampf gegen die Sozialdemokratie selbst aufnehmen und dadurch die Gefahr abwenden. Mau giebt sich der Hoffnung hin, die Svzialdemokrntie werde endlich, da sie wieder das freie Wort habe, „in ruhiger Sprache" das Wesen ihres kommunistischen Staates darlegen; und daun sei es Aufgabe der übrige» Parteien, zu zeigen, daß ein solcher Staat unmöglich sei. Darnach soll dann der Abfall der großen Massen von der sozialdemokratischen Lehre zu hoffen sein. Es ist wirklich schwer, über solche Hoffnungen ernsthaft zu reden. Aka¬ demische Erörterungen haben weder die Sozialdemokratie geschaffen, noch werden sie sie tot machen. Was sollen denn die Bürger thun, um den Kampf zu führen? Sollen sie Broschüren und Zeitungsartikel schreiben, die doch nicht gelesen werden? Oder sollen sie in die sozialdemokratischen Versammlungen gehen und Gegenreden halten, um bei den ersten Worten hinausgeworfen zu werden? Durch die Kulturarbeit von Jahrhunderten glaubte mau es dahin gebracht zu haben, daß den Schutz gegen Roheit und Bestialität der Staat in die Hand nehme und nicht seine Bürger auf den bloßen Selbstschutz verweise. Mit eiuer so wüsten Agitation, wie der sozialdemokratischen, kauu der ruhige und vor allem der gebildete Mann nimmer in Konkurrenz treten. Was die Sozialdemokraten wollen, das ist doch wohl durch ihre Kund- gebungen klar genug. Es uicht uoch klarer auszusprechen, dazu haben sie ihre guten Gründe. Sie wollen den Besitzenden ihr Vermöge« nehmen und, wenn diese sich widersetzen, kurzen Prozeß mit ihnen machen. Dem Namen »ach soll ihnen ihr Vermögen genommen werden, um als „Gemeingut der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/58>, abgerufen am 13.05.2024.