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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Das Dunkel der Zukunft

eine schwere Privatverschuldnng her, die viel höher verzinst werden müsse.
Eine Reihe von Jahren mit niedrigen Getreidepreisen habe die Lage vollends
verzweifelt gemacht. Schon sei die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse
im Großgrundbesitz wie bei den Bauern auf das geringste Maß beschränkt,
sodaß eine weitere Einschränkung als ausgeschlossen betrachtet werden müsse.
Der zahlungsunfähige Grundbesitzer müsse entweder sein Land unter dem
Hammer verkaufen oder sich dem Wucher in die Arme werfen; beides geschehe,
und beides ruinire die russische Landwirtschaft immer mehr.

An: schlagendsten beweise die Abnahme des Verbrauches von Erzeugnissen
der Baumwvllenmanufaktur, wie arm Rußland geworden sei. 1881 kam
für 6^/2 Millionen Rubel Baumwolle auf den Markt, 1882 für 49 Millionen.
1884 für 45 Millionen, 1890 für - 28,7 Millionen! In zehn Jahren hat
also der Verbrauch um mehr als 50 Prozent abgenommen -- ein sicheres
Zeugnis für die erschreckend gesunkene Kaufkraft des Landes!

Wenn Fürst Drutzkoi Ssokoluinski nach all diesen pessimistischen Betrach¬
tungen zum Schluß eine große Perspektive der wirtschaftlichen Stellung ent¬
rollt, die Rußland einnehmen müsse, und mit aller Entschiedenheit auf ein
Fallenlassen des jetzt herrschenden mörderischen Zollsystems dringt, so wollen
wir ihm diesen Ausblick auf die Zukunft nicht verkümmern; an die Erfüllung
seiner Wünsche für die Gegenwart aber glauben wir nicht. Das würde einen
Bruch mit dem ganzen heute herrschenden System bedeuten und zu einem Siege
jener liberalen Richtung führen, deren Bekämpfung einen Programmpunkt der
Männer bildet, die den Zaren und durch ihn Rußland beherrschen.




Das Dunkel der Zukunft

rüber hatte man es leichter als jetzt, die Zukunft zu bestimmen.
Man kannte die Pläne der Vorsehung aus heiligen Büchern,
die man nur zweckmäßig aufzuschlagen brauchte, um die Schicksale
der Türken oder das Ende der Welt, durch eine neue Sündflut
verursacht, mit Sicherheit zu erwarten. Wie die letztere Er¬
wartung uoch 1524 durch den Tübinger Astronomen Stosfler ausgesprochen
wurde, wie man eine Arche baute, um wenigstens einen Teil der Menschheit
zu erhalten, wie eine große Menge Menschen in Frankreich von dem bevor-


Das Dunkel der Zukunft

eine schwere Privatverschuldnng her, die viel höher verzinst werden müsse.
Eine Reihe von Jahren mit niedrigen Getreidepreisen habe die Lage vollends
verzweifelt gemacht. Schon sei die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse
im Großgrundbesitz wie bei den Bauern auf das geringste Maß beschränkt,
sodaß eine weitere Einschränkung als ausgeschlossen betrachtet werden müsse.
Der zahlungsunfähige Grundbesitzer müsse entweder sein Land unter dem
Hammer verkaufen oder sich dem Wucher in die Arme werfen; beides geschehe,
und beides ruinire die russische Landwirtschaft immer mehr.

An: schlagendsten beweise die Abnahme des Verbrauches von Erzeugnissen
der Baumwvllenmanufaktur, wie arm Rußland geworden sei. 1881 kam
für 6^/2 Millionen Rubel Baumwolle auf den Markt, 1882 für 49 Millionen.
1884 für 45 Millionen, 1890 für - 28,7 Millionen! In zehn Jahren hat
also der Verbrauch um mehr als 50 Prozent abgenommen — ein sicheres
Zeugnis für die erschreckend gesunkene Kaufkraft des Landes!

Wenn Fürst Drutzkoi Ssokoluinski nach all diesen pessimistischen Betrach¬
tungen zum Schluß eine große Perspektive der wirtschaftlichen Stellung ent¬
rollt, die Rußland einnehmen müsse, und mit aller Entschiedenheit auf ein
Fallenlassen des jetzt herrschenden mörderischen Zollsystems dringt, so wollen
wir ihm diesen Ausblick auf die Zukunft nicht verkümmern; an die Erfüllung
seiner Wünsche für die Gegenwart aber glauben wir nicht. Das würde einen
Bruch mit dem ganzen heute herrschenden System bedeuten und zu einem Siege
jener liberalen Richtung führen, deren Bekämpfung einen Programmpunkt der
Männer bildet, die den Zaren und durch ihn Rußland beherrschen.




Das Dunkel der Zukunft

rüber hatte man es leichter als jetzt, die Zukunft zu bestimmen.
Man kannte die Pläne der Vorsehung aus heiligen Büchern,
die man nur zweckmäßig aufzuschlagen brauchte, um die Schicksale
der Türken oder das Ende der Welt, durch eine neue Sündflut
verursacht, mit Sicherheit zu erwarten. Wie die letztere Er¬
wartung uoch 1524 durch den Tübinger Astronomen Stosfler ausgesprochen
wurde, wie man eine Arche baute, um wenigstens einen Teil der Menschheit
zu erhalten, wie eine große Menge Menschen in Frankreich von dem bevor-


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[0254] Das Dunkel der Zukunft eine schwere Privatverschuldnng her, die viel höher verzinst werden müsse. Eine Reihe von Jahren mit niedrigen Getreidepreisen habe die Lage vollends verzweifelt gemacht. Schon sei die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse im Großgrundbesitz wie bei den Bauern auf das geringste Maß beschränkt, sodaß eine weitere Einschränkung als ausgeschlossen betrachtet werden müsse. Der zahlungsunfähige Grundbesitzer müsse entweder sein Land unter dem Hammer verkaufen oder sich dem Wucher in die Arme werfen; beides geschehe, und beides ruinire die russische Landwirtschaft immer mehr. An: schlagendsten beweise die Abnahme des Verbrauches von Erzeugnissen der Baumwvllenmanufaktur, wie arm Rußland geworden sei. 1881 kam für 6^/2 Millionen Rubel Baumwolle auf den Markt, 1882 für 49 Millionen. 1884 für 45 Millionen, 1890 für - 28,7 Millionen! In zehn Jahren hat also der Verbrauch um mehr als 50 Prozent abgenommen — ein sicheres Zeugnis für die erschreckend gesunkene Kaufkraft des Landes! Wenn Fürst Drutzkoi Ssokoluinski nach all diesen pessimistischen Betrach¬ tungen zum Schluß eine große Perspektive der wirtschaftlichen Stellung ent¬ rollt, die Rußland einnehmen müsse, und mit aller Entschiedenheit auf ein Fallenlassen des jetzt herrschenden mörderischen Zollsystems dringt, so wollen wir ihm diesen Ausblick auf die Zukunft nicht verkümmern; an die Erfüllung seiner Wünsche für die Gegenwart aber glauben wir nicht. Das würde einen Bruch mit dem ganzen heute herrschenden System bedeuten und zu einem Siege jener liberalen Richtung führen, deren Bekämpfung einen Programmpunkt der Männer bildet, die den Zaren und durch ihn Rußland beherrschen. Das Dunkel der Zukunft rüber hatte man es leichter als jetzt, die Zukunft zu bestimmen. Man kannte die Pläne der Vorsehung aus heiligen Büchern, die man nur zweckmäßig aufzuschlagen brauchte, um die Schicksale der Türken oder das Ende der Welt, durch eine neue Sündflut verursacht, mit Sicherheit zu erwarten. Wie die letztere Er¬ wartung uoch 1524 durch den Tübinger Astronomen Stosfler ausgesprochen wurde, wie man eine Arche baute, um wenigstens einen Teil der Menschheit zu erhalten, wie eine große Menge Menschen in Frankreich von dem bevor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/254>, abgerufen am 06.05.2024.