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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Das Dunkel der Zukunft

stehenden Unheil fast verrückt wurden, alles das ist öfter als ein beschämendes
Zeugnis über die langsame Entwicklung menschlicher Kultur erzählt worden.

Jetzt ist man nicht mehr so prophetisch begabt. Während einige die
Gegenwart für wissensstolz und dünkelhaft halten, sagen gerade die Kundigen,
daß wir im Grunde nur das wüßten und im voraus berechnen könnten, was
mit unsern menschlichen Leiden und Freuden, mit unsern geschichtlichen Er¬
eignissen und unsern vaterländischen Interessen nichts zu thun hat: die astro¬
nomischen VewegungSverhältnisse, deren Ergebnisse die Kalender enthalten,
und die übrigen Naturgesetze, die eine merkliche Veränderung nicht darbieten,
und deren weitere Benutzung für das Wohl der Menschen wiederum unbe¬
rechenbar ist.

Das ist kein glänzendes Bild unsrer geistigen Fähigkeit. Die Faustische
Stimmung: .


Ich sehe, daß wir nichts wissen können;
' Das will mir schier das Herz verbrennen

ist jetzt noch mehr berechtigt als ehedem.

Glücklicherweise umspannt das Wissen nicht alle unsre menschlichen Inter¬
essen. Gerade das uns erreichbare Wissen hat zuweilen den Versuch gemacht,
angriffsweise gegen die Aussagen des Gemüts und die Ansprüche des Gewissens
vorzugehen. Aber es ist umsonst gewesen. Auch der pessimistische Philosoph,
der nnr an den gesetzlichen Wirbel der Atome glaubt, sieht in seinen Kindern
eine Welt ahnungsvoller Träume und Ideale aufs neue erblühen und hütet
sich, diese Welt als "Illusionen" zu bezeichnen. Er freut sich vielmehr, in
seiner väterlichen Würde von einer gewissen, eigentlich unbegreiflichen "Pietät"
umgeben zu sein. Und wenn er an die Zukunft seiner Kinder denkt, ist ihn:
das Heimische Wort: "Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind" doch sehr
widerwärtig und ,,pflichtwidrig." Auch er keunt in Wirklichkeit etwas Höheres,
als die mechanische Abfolge der Ereignisse; und wenn es auch bei ihm meist
nur zu einer halbwegs erträglichen Ausgleichung der beiden Seiten des
Menschen kommt, so ist doch die Hauptsache erreicht, die Anerkennung eines
berechtigten selbständigen Gemütslebens. Ohne Zweifel ist noch immer der
wirksamste Träger dieses Gemütslebens die religiöse Gemeinschaft. Wenn nun
ein trefflicher Denker (H. Lotze) so viel für eine bessere Einheit unsers gesell¬
schaftlichen und staatlichen Lebens davon hofft, daß "zwei feindliche Parteien
zur Bescheidenheit zurückkehren, daß nämlich einesteils die theologische Gelehr¬
samkeit, andernteils die irreligiöse Naturwissenschaft nicht so sehr vieles genau
zu wissen behaupten, was sie weder wissen, noch auch wissen können," so ist
diese Hoffnung auf dem Wege, erfüllt zu werden, nicht bloß auf dein Gebiete
der Naturwissenschaft, wie Ernst Hattler zeigt, sondern auch auf dem der
Theologie. Wenigstens ist uns in den letzten Wochen ein theologisches Buch
zugegangen, das die Bescheidenheit im theologischen Wissen in vorzüglicher


Das Dunkel der Zukunft

stehenden Unheil fast verrückt wurden, alles das ist öfter als ein beschämendes
Zeugnis über die langsame Entwicklung menschlicher Kultur erzählt worden.

Jetzt ist man nicht mehr so prophetisch begabt. Während einige die
Gegenwart für wissensstolz und dünkelhaft halten, sagen gerade die Kundigen,
daß wir im Grunde nur das wüßten und im voraus berechnen könnten, was
mit unsern menschlichen Leiden und Freuden, mit unsern geschichtlichen Er¬
eignissen und unsern vaterländischen Interessen nichts zu thun hat: die astro¬
nomischen VewegungSverhältnisse, deren Ergebnisse die Kalender enthalten,
und die übrigen Naturgesetze, die eine merkliche Veränderung nicht darbieten,
und deren weitere Benutzung für das Wohl der Menschen wiederum unbe¬
rechenbar ist.

Das ist kein glänzendes Bild unsrer geistigen Fähigkeit. Die Faustische
Stimmung: .


Ich sehe, daß wir nichts wissen können;
' Das will mir schier das Herz verbrennen

ist jetzt noch mehr berechtigt als ehedem.

Glücklicherweise umspannt das Wissen nicht alle unsre menschlichen Inter¬
essen. Gerade das uns erreichbare Wissen hat zuweilen den Versuch gemacht,
angriffsweise gegen die Aussagen des Gemüts und die Ansprüche des Gewissens
vorzugehen. Aber es ist umsonst gewesen. Auch der pessimistische Philosoph,
der nnr an den gesetzlichen Wirbel der Atome glaubt, sieht in seinen Kindern
eine Welt ahnungsvoller Träume und Ideale aufs neue erblühen und hütet
sich, diese Welt als „Illusionen" zu bezeichnen. Er freut sich vielmehr, in
seiner väterlichen Würde von einer gewissen, eigentlich unbegreiflichen „Pietät"
umgeben zu sein. Und wenn er an die Zukunft seiner Kinder denkt, ist ihn:
das Heimische Wort: „Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind" doch sehr
widerwärtig und ,,pflichtwidrig." Auch er keunt in Wirklichkeit etwas Höheres,
als die mechanische Abfolge der Ereignisse; und wenn es auch bei ihm meist
nur zu einer halbwegs erträglichen Ausgleichung der beiden Seiten des
Menschen kommt, so ist doch die Hauptsache erreicht, die Anerkennung eines
berechtigten selbständigen Gemütslebens. Ohne Zweifel ist noch immer der
wirksamste Träger dieses Gemütslebens die religiöse Gemeinschaft. Wenn nun
ein trefflicher Denker (H. Lotze) so viel für eine bessere Einheit unsers gesell¬
schaftlichen und staatlichen Lebens davon hofft, daß „zwei feindliche Parteien
zur Bescheidenheit zurückkehren, daß nämlich einesteils die theologische Gelehr¬
samkeit, andernteils die irreligiöse Naturwissenschaft nicht so sehr vieles genau
zu wissen behaupten, was sie weder wissen, noch auch wissen können," so ist
diese Hoffnung auf dem Wege, erfüllt zu werden, nicht bloß auf dein Gebiete
der Naturwissenschaft, wie Ernst Hattler zeigt, sondern auch auf dem der
Theologie. Wenigstens ist uns in den letzten Wochen ein theologisches Buch
zugegangen, das die Bescheidenheit im theologischen Wissen in vorzüglicher


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[0255] Das Dunkel der Zukunft stehenden Unheil fast verrückt wurden, alles das ist öfter als ein beschämendes Zeugnis über die langsame Entwicklung menschlicher Kultur erzählt worden. Jetzt ist man nicht mehr so prophetisch begabt. Während einige die Gegenwart für wissensstolz und dünkelhaft halten, sagen gerade die Kundigen, daß wir im Grunde nur das wüßten und im voraus berechnen könnten, was mit unsern menschlichen Leiden und Freuden, mit unsern geschichtlichen Er¬ eignissen und unsern vaterländischen Interessen nichts zu thun hat: die astro¬ nomischen VewegungSverhältnisse, deren Ergebnisse die Kalender enthalten, und die übrigen Naturgesetze, die eine merkliche Veränderung nicht darbieten, und deren weitere Benutzung für das Wohl der Menschen wiederum unbe¬ rechenbar ist. Das ist kein glänzendes Bild unsrer geistigen Fähigkeit. Die Faustische Stimmung: . Ich sehe, daß wir nichts wissen können; ' Das will mir schier das Herz verbrennen ist jetzt noch mehr berechtigt als ehedem. Glücklicherweise umspannt das Wissen nicht alle unsre menschlichen Inter¬ essen. Gerade das uns erreichbare Wissen hat zuweilen den Versuch gemacht, angriffsweise gegen die Aussagen des Gemüts und die Ansprüche des Gewissens vorzugehen. Aber es ist umsonst gewesen. Auch der pessimistische Philosoph, der nnr an den gesetzlichen Wirbel der Atome glaubt, sieht in seinen Kindern eine Welt ahnungsvoller Träume und Ideale aufs neue erblühen und hütet sich, diese Welt als „Illusionen" zu bezeichnen. Er freut sich vielmehr, in seiner väterlichen Würde von einer gewissen, eigentlich unbegreiflichen „Pietät" umgeben zu sein. Und wenn er an die Zukunft seiner Kinder denkt, ist ihn: das Heimische Wort: „Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind" doch sehr widerwärtig und ,,pflichtwidrig." Auch er keunt in Wirklichkeit etwas Höheres, als die mechanische Abfolge der Ereignisse; und wenn es auch bei ihm meist nur zu einer halbwegs erträglichen Ausgleichung der beiden Seiten des Menschen kommt, so ist doch die Hauptsache erreicht, die Anerkennung eines berechtigten selbständigen Gemütslebens. Ohne Zweifel ist noch immer der wirksamste Träger dieses Gemütslebens die religiöse Gemeinschaft. Wenn nun ein trefflicher Denker (H. Lotze) so viel für eine bessere Einheit unsers gesell¬ schaftlichen und staatlichen Lebens davon hofft, daß „zwei feindliche Parteien zur Bescheidenheit zurückkehren, daß nämlich einesteils die theologische Gelehr¬ samkeit, andernteils die irreligiöse Naturwissenschaft nicht so sehr vieles genau zu wissen behaupten, was sie weder wissen, noch auch wissen können," so ist diese Hoffnung auf dem Wege, erfüllt zu werden, nicht bloß auf dein Gebiete der Naturwissenschaft, wie Ernst Hattler zeigt, sondern auch auf dem der Theologie. Wenigstens ist uns in den letzten Wochen ein theologisches Buch zugegangen, das die Bescheidenheit im theologischen Wissen in vorzüglicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/255>, abgerufen am 19.05.2024.