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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Napoleon der Grste und die posttivistische Geschichtschreibung

müßte es als eine tiefe Demütigung empfinden, daß das deutsche Reich, das
auf allen andern Gebieten so Großes geleistet hat, nur auf dem Gebiete des
Privatrechtes nichts Besseres als dieses Gesetzbuch zu schaffen vermocht habe.

Allerdings würde Deutschland nicht daran zu Grunde gehen. Die Er¬
fahrung lehrt, daß ein Volk, wenn es sonst reich und glücklich ist, auch eine
schlechte Rechtsprechung ohne wesentlichen äußern Schaden ertragen kann. (So
z.B. in England.) Gleichwohl würde die andauernd unbefriedigende Gestaltung
eines so bedeutungsvollen Elementes des Volkslebens, wie es die bürgerliche
Rechtsprechung ist, schwer empfunden werden. Mit ihrem Sinken würde zugleich
die beste Schule für das ganze öffentliche Leben verloren gehen. Nach einem
Menschenalter aber würde die Kraft, sich ans diesem Zustande wieder heraus¬
zureißen, völlig erloschen sein. Und dann würde sich die Mißachtung, die
man heute dem innern Werte des Rechtes entgegenbringt, bitter rächen.




Napoleon der Erste
und die positivistische Geschichtschreibung

M
O> eilen haben geschichtliche Abhandlungen in Frankreich ein so leb¬
haftes Interesse im Publikum und einen so heftigen Meinungs¬
austausch in der französischen Presse hervorgerufen, wie die von
dem berühmten Geschichtsphilosvphen Taine zuerst in der lievuo
als8 cloux inonclv" veröffentlichten Aufsätze über Napoleon
Bonaparte. Das schonungslose Vorgehen Tcünes, seiue abfällige Charakteristik
und entschiedne Verurteilung des Begründers der französischen Zloirs sind selbst
von republikanischen Schriftstellern mit dem größten Unwillen aufgenommen
worden; der Streit, in den sich auch der Prinz Napoleon gemischt hat, dauert
noch fort und nimmt einen ähnlichen Umfang an, wie vor zwanzig Jahren,
als Lanfrey seine Geschichte Napoleons geschrieben hatte.

Man findet Taines Darstellung einseitig, übertrieben, verkehrt und das
Bild des Kaisers gefälscht und verzerrt; es fehlte nicht viel, so hätten seine
Landsleute den zu offenherzigen Historiker des Hochverrats, mindestens einer
unpatriotischen Gesinnung angeklagt. Der Prinz nennt ihn einen äöbonlounöur
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Napoleon der Grste und die posttivistische Geschichtschreibung

müßte es als eine tiefe Demütigung empfinden, daß das deutsche Reich, das
auf allen andern Gebieten so Großes geleistet hat, nur auf dem Gebiete des
Privatrechtes nichts Besseres als dieses Gesetzbuch zu schaffen vermocht habe.

Allerdings würde Deutschland nicht daran zu Grunde gehen. Die Er¬
fahrung lehrt, daß ein Volk, wenn es sonst reich und glücklich ist, auch eine
schlechte Rechtsprechung ohne wesentlichen äußern Schaden ertragen kann. (So
z.B. in England.) Gleichwohl würde die andauernd unbefriedigende Gestaltung
eines so bedeutungsvollen Elementes des Volkslebens, wie es die bürgerliche
Rechtsprechung ist, schwer empfunden werden. Mit ihrem Sinken würde zugleich
die beste Schule für das ganze öffentliche Leben verloren gehen. Nach einem
Menschenalter aber würde die Kraft, sich ans diesem Zustande wieder heraus¬
zureißen, völlig erloschen sein. Und dann würde sich die Mißachtung, die
man heute dem innern Werte des Rechtes entgegenbringt, bitter rächen.




Napoleon der Erste
und die positivistische Geschichtschreibung

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haftes Interesse im Publikum und einen so heftigen Meinungs¬
austausch in der französischen Presse hervorgerufen, wie die von
dem berühmten Geschichtsphilosvphen Taine zuerst in der lievuo
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Bonaparte. Das schonungslose Vorgehen Tcünes, seiue abfällige Charakteristik
und entschiedne Verurteilung des Begründers der französischen Zloirs sind selbst
von republikanischen Schriftstellern mit dem größten Unwillen aufgenommen
worden; der Streit, in den sich auch der Prinz Napoleon gemischt hat, dauert
noch fort und nimmt einen ähnlichen Umfang an, wie vor zwanzig Jahren,
als Lanfrey seine Geschichte Napoleons geschrieben hatte.

Man findet Taines Darstellung einseitig, übertrieben, verkehrt und das
Bild des Kaisers gefälscht und verzerrt; es fehlte nicht viel, so hätten seine
Landsleute den zu offenherzigen Historiker des Hochverrats, mindestens einer
unpatriotischen Gesinnung angeklagt. Der Prinz nennt ihn einen äöbonlounöur
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[0314] Napoleon der Grste und die posttivistische Geschichtschreibung müßte es als eine tiefe Demütigung empfinden, daß das deutsche Reich, das auf allen andern Gebieten so Großes geleistet hat, nur auf dem Gebiete des Privatrechtes nichts Besseres als dieses Gesetzbuch zu schaffen vermocht habe. Allerdings würde Deutschland nicht daran zu Grunde gehen. Die Er¬ fahrung lehrt, daß ein Volk, wenn es sonst reich und glücklich ist, auch eine schlechte Rechtsprechung ohne wesentlichen äußern Schaden ertragen kann. (So z.B. in England.) Gleichwohl würde die andauernd unbefriedigende Gestaltung eines so bedeutungsvollen Elementes des Volkslebens, wie es die bürgerliche Rechtsprechung ist, schwer empfunden werden. Mit ihrem Sinken würde zugleich die beste Schule für das ganze öffentliche Leben verloren gehen. Nach einem Menschenalter aber würde die Kraft, sich ans diesem Zustande wieder heraus¬ zureißen, völlig erloschen sein. Und dann würde sich die Mißachtung, die man heute dem innern Werte des Rechtes entgegenbringt, bitter rächen. Napoleon der Erste und die positivistische Geschichtschreibung M O> eilen haben geschichtliche Abhandlungen in Frankreich ein so leb¬ haftes Interesse im Publikum und einen so heftigen Meinungs¬ austausch in der französischen Presse hervorgerufen, wie die von dem berühmten Geschichtsphilosvphen Taine zuerst in der lievuo als8 cloux inonclv» veröffentlichten Aufsätze über Napoleon Bonaparte. Das schonungslose Vorgehen Tcünes, seiue abfällige Charakteristik und entschiedne Verurteilung des Begründers der französischen Zloirs sind selbst von republikanischen Schriftstellern mit dem größten Unwillen aufgenommen worden; der Streit, in den sich auch der Prinz Napoleon gemischt hat, dauert noch fort und nimmt einen ähnlichen Umfang an, wie vor zwanzig Jahren, als Lanfrey seine Geschichte Napoleons geschrieben hatte. Man findet Taines Darstellung einseitig, übertrieben, verkehrt und das Bild des Kaisers gefälscht und verzerrt; es fehlte nicht viel, so hätten seine Landsleute den zu offenherzigen Historiker des Hochverrats, mindestens einer unpatriotischen Gesinnung angeklagt. Der Prinz nennt ihn einen äöbonlounöur ne>,!ttlvmi(ins, der daran Vergnügen finde, sein Opfer bis zu den letzten Filiern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/314>, abgerufen am 06.05.2024.