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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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zu zerfetzen, ohne einen Aufschrei der Seele, ohne "Streben zum Idealen."
Für Taine, sagt er, ist die französische Revolution nur die ,,Metamorphose
eines Insekts"; er sieht alles mit den Augen eines Kurzsichtigen, er arbeitet
mit der Lupe, und sein Blick wird trübe oder unruhig, sobald der geprüfte
Gegenstand eine außergewöhnliche Größe annimmt. Dann verdoppelt er seine
Forschungen, er sucht eine Stelle, wo er sein Mikroskop ansetzen kann, erfindet
endlich eine Erklärung, die von seinem Gesichtspunkte ausgeht und die Größe
verkleinert, deren Anblick ihn zuerst benebelt lind geblendet hatte. Prinz
Napoleon behauptet, der Kaiser sei nur der uneigennützige Verbreiter der dnrch
die Revolution hervorgebrachten Gedanken gewesen; er habe niemals Ehrgeiz
und Selbstsucht gezeigt, denn sein vorzüglichster Charakterzug sei Herzensgüte
gewesen.

Andre, die Taines Darstellung nicht widersprechen, meinen: ,,Mpo1van tut>
un wonstre? Hu'iinxorts, xul-zyn'it s, kön, 1s i'ranvö Aloriöusv! Ihr sagt, daß
die Millionen Menschen, die er in den Tod geführt hat, nutzlos hingeopfert
worden seien, denn Frankreich habe er kleiner hinterlassen, als er es erhalten.
Kleiner? Glaubt das uicht. Er hat es um die Erinnerung an hundert Siege
größer hinterlassen. Er hat zwanzig Jahre lang Krieg geführt, das heißt,
zwanzig Jahre lang hat er die Seele des Volkes hochgehalten, indem er darin
Mut, Stolz und Opfersinn bis zum äußersten steigerte. O, möchte doch ein
solches Ungeheuer wie er wiederkommen, um uns aufzurütteln und uns zu
rächen!" Mau sieht, die napoleonische Legende, die einst durch den Haß gegen
die Vourbouen großgezogen und durch Geschichtschreiber, Künstler und Dichter
der Volksseele künstlich eingeimpft worden war, lebt trotz Auguste Barbier,
Lamartine und Lausrey, trotz der Ereignisse von 1870 und 1871 ungeschmälert
fort; und wenn die Entrüstung über Tome, der nur das durch seine Posi¬
tivistische Methode beweist, was andre Geschichtschreiber bereits gefunden und
oft viel rücksichtsloser ausgesprochen haben, bis in die letzten Volksschichten
gedrungen ist, so zeigt diese Erscheinung, daß das französische Volk ohne seinen
Götzen, den Bvrauger, Victor Hugo, Edgar Qniuet, Thiers u. a. verherrlicht
haben, uicht mehr leben kann. Es muß diese Personifikation des National¬
ruhmes nun einmal haben, es muß einen militärischen Helden der Revolution
feiern können, und was diese für Frankreich ist, das haben neuerdings die
beispiellosen Auftritte bei der Aufführung von Sardvns Thermidor bewiesen.

Es ist bekannt, daß Taine bei allen seinen Studien von rein materialistische"
Voraussetzungen ausgeht, daß er die exakte Methode der Naturwissenschaften:
in vollen: Umfange auf die Erforschung und Darstellung des künstlerischen,
philosophischen und geschichtlichem Lebens überträgt. ,,Ob die Thatsachen phy¬
sischer oder moralischer Natur sind, sagt er, ist ganz gleichgiltig, sie haben
immer Ursachen. Es giebt Ursachen für den Ehrgeiz, für den Mut, für die
Wahrheitsliebe wie für die Verdauung, für die Muskelbewegung und die


zu zerfetzen, ohne einen Aufschrei der Seele, ohne „Streben zum Idealen."
Für Taine, sagt er, ist die französische Revolution nur die ,,Metamorphose
eines Insekts"; er sieht alles mit den Augen eines Kurzsichtigen, er arbeitet
mit der Lupe, und sein Blick wird trübe oder unruhig, sobald der geprüfte
Gegenstand eine außergewöhnliche Größe annimmt. Dann verdoppelt er seine
Forschungen, er sucht eine Stelle, wo er sein Mikroskop ansetzen kann, erfindet
endlich eine Erklärung, die von seinem Gesichtspunkte ausgeht und die Größe
verkleinert, deren Anblick ihn zuerst benebelt lind geblendet hatte. Prinz
Napoleon behauptet, der Kaiser sei nur der uneigennützige Verbreiter der dnrch
die Revolution hervorgebrachten Gedanken gewesen; er habe niemals Ehrgeiz
und Selbstsucht gezeigt, denn sein vorzüglichster Charakterzug sei Herzensgüte
gewesen.

Andre, die Taines Darstellung nicht widersprechen, meinen: ,,Mpo1van tut>
un wonstre? Hu'iinxorts, xul-zyn'it s, kön, 1s i'ranvö Aloriöusv! Ihr sagt, daß
die Millionen Menschen, die er in den Tod geführt hat, nutzlos hingeopfert
worden seien, denn Frankreich habe er kleiner hinterlassen, als er es erhalten.
Kleiner? Glaubt das uicht. Er hat es um die Erinnerung an hundert Siege
größer hinterlassen. Er hat zwanzig Jahre lang Krieg geführt, das heißt,
zwanzig Jahre lang hat er die Seele des Volkes hochgehalten, indem er darin
Mut, Stolz und Opfersinn bis zum äußersten steigerte. O, möchte doch ein
solches Ungeheuer wie er wiederkommen, um uns aufzurütteln und uns zu
rächen!" Mau sieht, die napoleonische Legende, die einst durch den Haß gegen
die Vourbouen großgezogen und durch Geschichtschreiber, Künstler und Dichter
der Volksseele künstlich eingeimpft worden war, lebt trotz Auguste Barbier,
Lamartine und Lausrey, trotz der Ereignisse von 1870 und 1871 ungeschmälert
fort; und wenn die Entrüstung über Tome, der nur das durch seine Posi¬
tivistische Methode beweist, was andre Geschichtschreiber bereits gefunden und
oft viel rücksichtsloser ausgesprochen haben, bis in die letzten Volksschichten
gedrungen ist, so zeigt diese Erscheinung, daß das französische Volk ohne seinen
Götzen, den Bvrauger, Victor Hugo, Edgar Qniuet, Thiers u. a. verherrlicht
haben, uicht mehr leben kann. Es muß diese Personifikation des National¬
ruhmes nun einmal haben, es muß einen militärischen Helden der Revolution
feiern können, und was diese für Frankreich ist, das haben neuerdings die
beispiellosen Auftritte bei der Aufführung von Sardvns Thermidor bewiesen.

Es ist bekannt, daß Taine bei allen seinen Studien von rein materialistische»
Voraussetzungen ausgeht, daß er die exakte Methode der Naturwissenschaften:
in vollen: Umfange auf die Erforschung und Darstellung des künstlerischen,
philosophischen und geschichtlichem Lebens überträgt. ,,Ob die Thatsachen phy¬
sischer oder moralischer Natur sind, sagt er, ist ganz gleichgiltig, sie haben
immer Ursachen. Es giebt Ursachen für den Ehrgeiz, für den Mut, für die
Wahrheitsliebe wie für die Verdauung, für die Muskelbewegung und die


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[0315] zu zerfetzen, ohne einen Aufschrei der Seele, ohne „Streben zum Idealen." Für Taine, sagt er, ist die französische Revolution nur die ,,Metamorphose eines Insekts"; er sieht alles mit den Augen eines Kurzsichtigen, er arbeitet mit der Lupe, und sein Blick wird trübe oder unruhig, sobald der geprüfte Gegenstand eine außergewöhnliche Größe annimmt. Dann verdoppelt er seine Forschungen, er sucht eine Stelle, wo er sein Mikroskop ansetzen kann, erfindet endlich eine Erklärung, die von seinem Gesichtspunkte ausgeht und die Größe verkleinert, deren Anblick ihn zuerst benebelt lind geblendet hatte. Prinz Napoleon behauptet, der Kaiser sei nur der uneigennützige Verbreiter der dnrch die Revolution hervorgebrachten Gedanken gewesen; er habe niemals Ehrgeiz und Selbstsucht gezeigt, denn sein vorzüglichster Charakterzug sei Herzensgüte gewesen. Andre, die Taines Darstellung nicht widersprechen, meinen: ,,Mpo1van tut> un wonstre? Hu'iinxorts, xul-zyn'it s, kön, 1s i'ranvö Aloriöusv! Ihr sagt, daß die Millionen Menschen, die er in den Tod geführt hat, nutzlos hingeopfert worden seien, denn Frankreich habe er kleiner hinterlassen, als er es erhalten. Kleiner? Glaubt das uicht. Er hat es um die Erinnerung an hundert Siege größer hinterlassen. Er hat zwanzig Jahre lang Krieg geführt, das heißt, zwanzig Jahre lang hat er die Seele des Volkes hochgehalten, indem er darin Mut, Stolz und Opfersinn bis zum äußersten steigerte. O, möchte doch ein solches Ungeheuer wie er wiederkommen, um uns aufzurütteln und uns zu rächen!" Mau sieht, die napoleonische Legende, die einst durch den Haß gegen die Vourbouen großgezogen und durch Geschichtschreiber, Künstler und Dichter der Volksseele künstlich eingeimpft worden war, lebt trotz Auguste Barbier, Lamartine und Lausrey, trotz der Ereignisse von 1870 und 1871 ungeschmälert fort; und wenn die Entrüstung über Tome, der nur das durch seine Posi¬ tivistische Methode beweist, was andre Geschichtschreiber bereits gefunden und oft viel rücksichtsloser ausgesprochen haben, bis in die letzten Volksschichten gedrungen ist, so zeigt diese Erscheinung, daß das französische Volk ohne seinen Götzen, den Bvrauger, Victor Hugo, Edgar Qniuet, Thiers u. a. verherrlicht haben, uicht mehr leben kann. Es muß diese Personifikation des National¬ ruhmes nun einmal haben, es muß einen militärischen Helden der Revolution feiern können, und was diese für Frankreich ist, das haben neuerdings die beispiellosen Auftritte bei der Aufführung von Sardvns Thermidor bewiesen. Es ist bekannt, daß Taine bei allen seinen Studien von rein materialistische» Voraussetzungen ausgeht, daß er die exakte Methode der Naturwissenschaften: in vollen: Umfange auf die Erforschung und Darstellung des künstlerischen, philosophischen und geschichtlichem Lebens überträgt. ,,Ob die Thatsachen phy¬ sischer oder moralischer Natur sind, sagt er, ist ganz gleichgiltig, sie haben immer Ursachen. Es giebt Ursachen für den Ehrgeiz, für den Mut, für die Wahrheitsliebe wie für die Verdauung, für die Muskelbewegung und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/315>, abgerufen am 26.05.2024.