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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Gymnasiallehrer und Gymnasialnovellen

s wäre in kulturgeschichtlicher Beziehung eine interessante Arbeit/
einmal zu untersuchen, wie sich in unsrer Romandichtung die
Gesellschaftskreise und Berufsstände ändern, aus denen die
Schriftsteller mit Vorliebe ihre Helden zu nehmen Pflegen-
Natürlich könnte sich eine derartige Untersuchung nur auf die
sogenannten sozialen Romane und Novellen beziehen, denn bei geschichtlichen
Romanen kann von einer freien Wahl des Schriftstellers in dieser Hinsicht
kaum die Rede sein, da der Charakter dieser Gattung einer Vorliebe für be¬
stimmte Bernfsstände nicht viel Raum läßt. Im sozialen Roman dagegen,
insbesondre bei denen zweiter und dritter Ordnung, die auf den Beifall der
um Äußerlichkeiten klebenden schönen Leserinnen berechnet sind, laßt sich eine
derartige Bevorzugung durch alle Perioden der Litteraturgeschichte verfolgen.
In den dreißiger Jahren und noch früher sind die Aristokraten, die Barone
und die Grafen die Hauptträger der Handlung; dann tauchen abwechselnd
die ideal angehauchten jungen Rittergutsbesitzer auf, die hochgebildeten Kauf¬
herren mit ihren Säcken voll Geld und ihren Herzen voll Menschenliebe, die
Jndustriehelden mit veilchenblauen Augen und laugen blonden Vollbärten, und
die nervösen Staatsmänner, deren diplomatische Berechnungen an dem Venus¬
berge zu schänden werden; dann erscheinen die menschenfreundlichen Ärzte, deren
Kunst eine Gräfin oder Prinzessin von langer Krankheit und sie selbst von
einem lustigen Junggesellentum befreit; und weiter die mühnenschüttelnden
Künstler, in deren Augen süßer Wahnsinn glüht, und die formgewandten,
ritterlichen, liebeschmachtenden Assessoren, die allemal schon das Minister-
Portefeuille, selbst für Landwirtschaft und Viehzucht, in der Tasche tragen.


schaftlichen Geiste erfüllt ist. Gnad weist nach, was wir vor zwei Jahren bei Besprechung
der "Stationen" hier ebenfalls gethan haben, daß Hamerling kein naiver Lyriker war, wie er
selbst meinte; auch ans ihren abstrakten Charakter weist Gnad treffend hin und zeigt ferner, daß
einunddieselbe Idee, die Idee der Liebe, in allen Werken des Dichters gefeiert wird. Die Studie
ist vor dem Erscheinen der "Atomistik" geschrieben worden. Durch dieses Werk hat die ganze
Hcunerling-Kritik eine neue Grundlage gewonnen; man kann nicht mehr über ihn schreiben,
ohne mit seiner Ethik vertraut zu sein.
Grenzvvten II 1891 37


Gymnasiallehrer und Gymnasialnovellen

s wäre in kulturgeschichtlicher Beziehung eine interessante Arbeit/
einmal zu untersuchen, wie sich in unsrer Romandichtung die
Gesellschaftskreise und Berufsstände ändern, aus denen die
Schriftsteller mit Vorliebe ihre Helden zu nehmen Pflegen-
Natürlich könnte sich eine derartige Untersuchung nur auf die
sogenannten sozialen Romane und Novellen beziehen, denn bei geschichtlichen
Romanen kann von einer freien Wahl des Schriftstellers in dieser Hinsicht
kaum die Rede sein, da der Charakter dieser Gattung einer Vorliebe für be¬
stimmte Bernfsstände nicht viel Raum läßt. Im sozialen Roman dagegen,
insbesondre bei denen zweiter und dritter Ordnung, die auf den Beifall der
um Äußerlichkeiten klebenden schönen Leserinnen berechnet sind, laßt sich eine
derartige Bevorzugung durch alle Perioden der Litteraturgeschichte verfolgen.
In den dreißiger Jahren und noch früher sind die Aristokraten, die Barone
und die Grafen die Hauptträger der Handlung; dann tauchen abwechselnd
die ideal angehauchten jungen Rittergutsbesitzer auf, die hochgebildeten Kauf¬
herren mit ihren Säcken voll Geld und ihren Herzen voll Menschenliebe, die
Jndustriehelden mit veilchenblauen Augen und laugen blonden Vollbärten, und
die nervösen Staatsmänner, deren diplomatische Berechnungen an dem Venus¬
berge zu schänden werden; dann erscheinen die menschenfreundlichen Ärzte, deren
Kunst eine Gräfin oder Prinzessin von langer Krankheit und sie selbst von
einem lustigen Junggesellentum befreit; und weiter die mühnenschüttelnden
Künstler, in deren Augen süßer Wahnsinn glüht, und die formgewandten,
ritterlichen, liebeschmachtenden Assessoren, die allemal schon das Minister-
Portefeuille, selbst für Landwirtschaft und Viehzucht, in der Tasche tragen.


schaftlichen Geiste erfüllt ist. Gnad weist nach, was wir vor zwei Jahren bei Besprechung
der „Stationen" hier ebenfalls gethan haben, daß Hamerling kein naiver Lyriker war, wie er
selbst meinte; auch ans ihren abstrakten Charakter weist Gnad treffend hin und zeigt ferner, daß
einunddieselbe Idee, die Idee der Liebe, in allen Werken des Dichters gefeiert wird. Die Studie
ist vor dem Erscheinen der „Atomistik" geschrieben worden. Durch dieses Werk hat die ganze
Hcunerling-Kritik eine neue Grundlage gewonnen; man kann nicht mehr über ihn schreiben,
ohne mit seiner Ethik vertraut zu sein.
Grenzvvten II 1891 37
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[0293] [Abbildung] Gymnasiallehrer und Gymnasialnovellen s wäre in kulturgeschichtlicher Beziehung eine interessante Arbeit/ einmal zu untersuchen, wie sich in unsrer Romandichtung die Gesellschaftskreise und Berufsstände ändern, aus denen die Schriftsteller mit Vorliebe ihre Helden zu nehmen Pflegen- Natürlich könnte sich eine derartige Untersuchung nur auf die sogenannten sozialen Romane und Novellen beziehen, denn bei geschichtlichen Romanen kann von einer freien Wahl des Schriftstellers in dieser Hinsicht kaum die Rede sein, da der Charakter dieser Gattung einer Vorliebe für be¬ stimmte Bernfsstände nicht viel Raum läßt. Im sozialen Roman dagegen, insbesondre bei denen zweiter und dritter Ordnung, die auf den Beifall der um Äußerlichkeiten klebenden schönen Leserinnen berechnet sind, laßt sich eine derartige Bevorzugung durch alle Perioden der Litteraturgeschichte verfolgen. In den dreißiger Jahren und noch früher sind die Aristokraten, die Barone und die Grafen die Hauptträger der Handlung; dann tauchen abwechselnd die ideal angehauchten jungen Rittergutsbesitzer auf, die hochgebildeten Kauf¬ herren mit ihren Säcken voll Geld und ihren Herzen voll Menschenliebe, die Jndustriehelden mit veilchenblauen Augen und laugen blonden Vollbärten, und die nervösen Staatsmänner, deren diplomatische Berechnungen an dem Venus¬ berge zu schänden werden; dann erscheinen die menschenfreundlichen Ärzte, deren Kunst eine Gräfin oder Prinzessin von langer Krankheit und sie selbst von einem lustigen Junggesellentum befreit; und weiter die mühnenschüttelnden Künstler, in deren Augen süßer Wahnsinn glüht, und die formgewandten, ritterlichen, liebeschmachtenden Assessoren, die allemal schon das Minister- Portefeuille, selbst für Landwirtschaft und Viehzucht, in der Tasche tragen. schaftlichen Geiste erfüllt ist. Gnad weist nach, was wir vor zwei Jahren bei Besprechung der „Stationen" hier ebenfalls gethan haben, daß Hamerling kein naiver Lyriker war, wie er selbst meinte; auch ans ihren abstrakten Charakter weist Gnad treffend hin und zeigt ferner, daß einunddieselbe Idee, die Idee der Liebe, in allen Werken des Dichters gefeiert wird. Die Studie ist vor dem Erscheinen der „Atomistik" geschrieben worden. Durch dieses Werk hat die ganze Hcunerling-Kritik eine neue Grundlage gewonnen; man kann nicht mehr über ihn schreiben, ohne mit seiner Ethik vertraut zu sein. Grenzvvten II 1891 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/293>, abgerufen am 04.05.2024.