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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

Meinung offen und unumwunden geäußert und nie Veranlassung aus solchen Er¬
lebnissen geschöpft, Ihr Verhältnis zu meiner Person aufzulösen. Jetzt ruft mich
meine Pflicht, als Erbe meines Vaterlandes den Säbel zu ziehen für eine Frage,
deren Entstehung einem System zugeschrieben werden muß, dem Sie sich mehr
genähert haben, während ich mich ganz von demselben losgesagt. Vollkommen ver¬
stehe ich, daß Sie nieine Zurückhaltung während der allerletzten Zeit empfunden
haben und angesichts eines Krieges, der mich vielleicht auf lange Zeit Vom häus¬
lichen Kreise fern halten wird, den Drang nach andrer Beschäftigung in sich rege
werden fühlen.




Geschichtsphilosophische Gedanken
8

urch das Mißfallen an dem unerauicklichen Schauspiele der
Parteikämpfe lassen sich die Parteilosen und dnrch den Ärger
über die Unausrottbarkeit der Gegenparteien die Parteimenschen
nicht selten verleiten, entweder einzelne Parteien oder das ganze
Parteitreiben für staatsgefährlich zu erklären. In Wahrheit
machen aber die Parteikämpfe den Inhalt des politischen Lebens aus, denn
ohne solche ist keine Änderung der Staatseinrichtungen denkbar, eine Verwal¬
tungsmaschine aber, die keine Umbildung mehr erlitte, wäre eben nur noch
eine Maschine oder gar nur noch die Mumie eines Staates. Die Klagen
über das Parteitreiben Pflegen um so heftiger zu werden, je gesünder dieses
wird. Gesund ist es nämlich dann, wenn alle verschiednen Interessengruppen
ihre Bedürfnisse und Wünsche lebhaft äußern, d. h. also wenn die Parteien
sehr zahlreich siud. Das ist natürlich für die Staatsmänner wie für die
Parteiführer, die große handliche Gruppen brauchen, höchst unbequem, und sie
jammern denn über die "Zerfahrenheit," "Verwobenheit" wäre das richtigere
Wort. Das ganze Unglück besteht gewöhnlich nur darin, daß einige Gesetze
lange warten müssen oder gar nicht zustande kommen, die, falls sie fertig
werden, nach kurzem Bestand bis zur Unkenntlichkeit verändert oder ganz
wieder abgeschafft werden müssen. Wenn auch wirklich notwendige Änderungen
zuweilen ungebührlich lange hinausgeschoben werden, so liegt das gewöhnlich
nicht an der "Zerfahrenheit" der Parteien, sondern an der Gewohnheit, dem
Staate Dinge aufzupacken, die viel besser von den beteiligten Gemeinden,
Provinzen oder Korporationen erledigt würden, und an der Versessenheit auf
solche "organische" Gesetze, die das Gegenteil von organisch, nämlich syste¬
matisch und schematisch siud. Anstatt sich auf den einzelnen Fall zu beschränken,
wo baldige Abhilfe ganz gut möglich wäre, läßt man die um Abhilfe bittenden


Geschichtsphilosophische Gedanken

Meinung offen und unumwunden geäußert und nie Veranlassung aus solchen Er¬
lebnissen geschöpft, Ihr Verhältnis zu meiner Person aufzulösen. Jetzt ruft mich
meine Pflicht, als Erbe meines Vaterlandes den Säbel zu ziehen für eine Frage,
deren Entstehung einem System zugeschrieben werden muß, dem Sie sich mehr
genähert haben, während ich mich ganz von demselben losgesagt. Vollkommen ver¬
stehe ich, daß Sie nieine Zurückhaltung während der allerletzten Zeit empfunden
haben und angesichts eines Krieges, der mich vielleicht auf lange Zeit Vom häus¬
lichen Kreise fern halten wird, den Drang nach andrer Beschäftigung in sich rege
werden fühlen.




Geschichtsphilosophische Gedanken
8

urch das Mißfallen an dem unerauicklichen Schauspiele der
Parteikämpfe lassen sich die Parteilosen und dnrch den Ärger
über die Unausrottbarkeit der Gegenparteien die Parteimenschen
nicht selten verleiten, entweder einzelne Parteien oder das ganze
Parteitreiben für staatsgefährlich zu erklären. In Wahrheit
machen aber die Parteikämpfe den Inhalt des politischen Lebens aus, denn
ohne solche ist keine Änderung der Staatseinrichtungen denkbar, eine Verwal¬
tungsmaschine aber, die keine Umbildung mehr erlitte, wäre eben nur noch
eine Maschine oder gar nur noch die Mumie eines Staates. Die Klagen
über das Parteitreiben Pflegen um so heftiger zu werden, je gesünder dieses
wird. Gesund ist es nämlich dann, wenn alle verschiednen Interessengruppen
ihre Bedürfnisse und Wünsche lebhaft äußern, d. h. also wenn die Parteien
sehr zahlreich siud. Das ist natürlich für die Staatsmänner wie für die
Parteiführer, die große handliche Gruppen brauchen, höchst unbequem, und sie
jammern denn über die „Zerfahrenheit," „Verwobenheit" wäre das richtigere
Wort. Das ganze Unglück besteht gewöhnlich nur darin, daß einige Gesetze
lange warten müssen oder gar nicht zustande kommen, die, falls sie fertig
werden, nach kurzem Bestand bis zur Unkenntlichkeit verändert oder ganz
wieder abgeschafft werden müssen. Wenn auch wirklich notwendige Änderungen
zuweilen ungebührlich lange hinausgeschoben werden, so liegt das gewöhnlich
nicht an der „Zerfahrenheit" der Parteien, sondern an der Gewohnheit, dem
Staate Dinge aufzupacken, die viel besser von den beteiligten Gemeinden,
Provinzen oder Korporationen erledigt würden, und an der Versessenheit auf
solche „organische" Gesetze, die das Gegenteil von organisch, nämlich syste¬
matisch und schematisch siud. Anstatt sich auf den einzelnen Fall zu beschränken,
wo baldige Abhilfe ganz gut möglich wäre, läßt man die um Abhilfe bittenden


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[0602] Geschichtsphilosophische Gedanken Meinung offen und unumwunden geäußert und nie Veranlassung aus solchen Er¬ lebnissen geschöpft, Ihr Verhältnis zu meiner Person aufzulösen. Jetzt ruft mich meine Pflicht, als Erbe meines Vaterlandes den Säbel zu ziehen für eine Frage, deren Entstehung einem System zugeschrieben werden muß, dem Sie sich mehr genähert haben, während ich mich ganz von demselben losgesagt. Vollkommen ver¬ stehe ich, daß Sie nieine Zurückhaltung während der allerletzten Zeit empfunden haben und angesichts eines Krieges, der mich vielleicht auf lange Zeit Vom häus¬ lichen Kreise fern halten wird, den Drang nach andrer Beschäftigung in sich rege werden fühlen. Geschichtsphilosophische Gedanken 8 urch das Mißfallen an dem unerauicklichen Schauspiele der Parteikämpfe lassen sich die Parteilosen und dnrch den Ärger über die Unausrottbarkeit der Gegenparteien die Parteimenschen nicht selten verleiten, entweder einzelne Parteien oder das ganze Parteitreiben für staatsgefährlich zu erklären. In Wahrheit machen aber die Parteikämpfe den Inhalt des politischen Lebens aus, denn ohne solche ist keine Änderung der Staatseinrichtungen denkbar, eine Verwal¬ tungsmaschine aber, die keine Umbildung mehr erlitte, wäre eben nur noch eine Maschine oder gar nur noch die Mumie eines Staates. Die Klagen über das Parteitreiben Pflegen um so heftiger zu werden, je gesünder dieses wird. Gesund ist es nämlich dann, wenn alle verschiednen Interessengruppen ihre Bedürfnisse und Wünsche lebhaft äußern, d. h. also wenn die Parteien sehr zahlreich siud. Das ist natürlich für die Staatsmänner wie für die Parteiführer, die große handliche Gruppen brauchen, höchst unbequem, und sie jammern denn über die „Zerfahrenheit," „Verwobenheit" wäre das richtigere Wort. Das ganze Unglück besteht gewöhnlich nur darin, daß einige Gesetze lange warten müssen oder gar nicht zustande kommen, die, falls sie fertig werden, nach kurzem Bestand bis zur Unkenntlichkeit verändert oder ganz wieder abgeschafft werden müssen. Wenn auch wirklich notwendige Änderungen zuweilen ungebührlich lange hinausgeschoben werden, so liegt das gewöhnlich nicht an der „Zerfahrenheit" der Parteien, sondern an der Gewohnheit, dem Staate Dinge aufzupacken, die viel besser von den beteiligten Gemeinden, Provinzen oder Korporationen erledigt würden, und an der Versessenheit auf solche „organische" Gesetze, die das Gegenteil von organisch, nämlich syste¬ matisch und schematisch siud. Anstatt sich auf den einzelnen Fall zu beschränken, wo baldige Abhilfe ganz gut möglich wäre, läßt man die um Abhilfe bittenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/602>, abgerufen am 03.05.2024.