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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Doktrinarismus
v L. Ro eilig on

oktrinarismus ist eines der viele" Schlagwörter, die die Gegen¬
wart erfunden hat, und die in ihr eine hervorragende Rolle
spielen. Das Schlcigwort überhaupt verdankt seine Entstehung
dem an sich berechtigten Bestreben, ganze Gedankenkreise und
Geistesrichtungen in möglichster Kürze, mit einem einzigen Worte
zu bezeichnen, das damit weiterhin zugleich zum Losungswort und Parteirufe
für Freund und Feind wird. Aber diesem rechten Gebrauche folgt nur zu
leicht der Mißbrauch, über dem Worte wird die Sache vergessen, mit dem¬
selben Worte verbinden sich in verschiednen Köpfen verschiedne, in manchen auch
gar keine Vorstellungen, und die Folge sind endlose Verwirrungen und Streitig¬
keiten. Noch schlimmer aber ist es, wenn das Schlagwort zum Beweismittel
gemacht wird, ein Verfahren, das leider in den politischen Erörterungen der
Tagespresse und in Volksreden bereits in sehr weiten: Umfange geübt wird.
Wenn sich schon unter den Anhängern einer Partei immer nur wenige finden,
die über die Gründe ihrer Überzeugungen und ihrer Stellungnahme sich Rechen¬
schaft gegeben haben und zu gebe" vermögen, so wirkt die eben bezeichnete
BeHandlungsweise streitiger Fragen leider noch weiter auf die Abstumpfung
des vorurteilsfreien, prüfenden Denkens hin. Genüsse Schlagwörter haben
allgemein oder wenigstens in bestimmten Kreisen einen guten, andre einen bösen
Klang; und wenn sich auch das Bewußtsein ihrer eigentlichen und ursprüng¬
lichen Bedeutung völlig verdunkelt hat oder die Bedeutung im Laufe der Zeit
eine andre geworden ist, so bleiben doch die damit verbundnen Vorurteile in
Geltung, und es genügt, daß man ein entsprechendes Schlagwort auf eine
Sache geschickt anzuwenden weiß, um der Billigung oder Mißbilligung der
Masse sicher zu sein.

Das Wort Doktrinarismus gehört zu denen, die in unsrer Zeit gewöhn¬
lich einen Übeln Klang haben; ein Doktrinär heißt etwa so viel wie ein Mann,
dem die Urteilsfähigkeit abgeht, der durch langes und einseitiges Studium
über den Begriffen die Dinge vergessen hat u. s. w. Es lohnt sich nach dem
vorher bemerkten vielleicht zu untersuche", ob diese Beurteilung, wenn wir auf
deu eigeiitlichen und richtigen Sinn des Begriffes zurückgehen, thatsächlich
und in allen Fällen berechtigt ist.




Doktrinarismus
v L. Ro eilig on

oktrinarismus ist eines der viele» Schlagwörter, die die Gegen¬
wart erfunden hat, und die in ihr eine hervorragende Rolle
spielen. Das Schlcigwort überhaupt verdankt seine Entstehung
dem an sich berechtigten Bestreben, ganze Gedankenkreise und
Geistesrichtungen in möglichster Kürze, mit einem einzigen Worte
zu bezeichnen, das damit weiterhin zugleich zum Losungswort und Parteirufe
für Freund und Feind wird. Aber diesem rechten Gebrauche folgt nur zu
leicht der Mißbrauch, über dem Worte wird die Sache vergessen, mit dem¬
selben Worte verbinden sich in verschiednen Köpfen verschiedne, in manchen auch
gar keine Vorstellungen, und die Folge sind endlose Verwirrungen und Streitig¬
keiten. Noch schlimmer aber ist es, wenn das Schlagwort zum Beweismittel
gemacht wird, ein Verfahren, das leider in den politischen Erörterungen der
Tagespresse und in Volksreden bereits in sehr weiten: Umfange geübt wird.
Wenn sich schon unter den Anhängern einer Partei immer nur wenige finden,
die über die Gründe ihrer Überzeugungen und ihrer Stellungnahme sich Rechen¬
schaft gegeben haben und zu gebe» vermögen, so wirkt die eben bezeichnete
BeHandlungsweise streitiger Fragen leider noch weiter auf die Abstumpfung
des vorurteilsfreien, prüfenden Denkens hin. Genüsse Schlagwörter haben
allgemein oder wenigstens in bestimmten Kreisen einen guten, andre einen bösen
Klang; und wenn sich auch das Bewußtsein ihrer eigentlichen und ursprüng¬
lichen Bedeutung völlig verdunkelt hat oder die Bedeutung im Laufe der Zeit
eine andre geworden ist, so bleiben doch die damit verbundnen Vorurteile in
Geltung, und es genügt, daß man ein entsprechendes Schlagwort auf eine
Sache geschickt anzuwenden weiß, um der Billigung oder Mißbilligung der
Masse sicher zu sein.

Das Wort Doktrinarismus gehört zu denen, die in unsrer Zeit gewöhn¬
lich einen Übeln Klang haben; ein Doktrinär heißt etwa so viel wie ein Mann,
dem die Urteilsfähigkeit abgeht, der durch langes und einseitiges Studium
über den Begriffen die Dinge vergessen hat u. s. w. Es lohnt sich nach dem
vorher bemerkten vielleicht zu untersuche», ob diese Beurteilung, wenn wir auf
deu eigeiitlichen und richtigen Sinn des Begriffes zurückgehen, thatsächlich
und in allen Fällen berechtigt ist.


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[0072] [Abbildung] Doktrinarismus v L. Ro eilig on oktrinarismus ist eines der viele» Schlagwörter, die die Gegen¬ wart erfunden hat, und die in ihr eine hervorragende Rolle spielen. Das Schlcigwort überhaupt verdankt seine Entstehung dem an sich berechtigten Bestreben, ganze Gedankenkreise und Geistesrichtungen in möglichster Kürze, mit einem einzigen Worte zu bezeichnen, das damit weiterhin zugleich zum Losungswort und Parteirufe für Freund und Feind wird. Aber diesem rechten Gebrauche folgt nur zu leicht der Mißbrauch, über dem Worte wird die Sache vergessen, mit dem¬ selben Worte verbinden sich in verschiednen Köpfen verschiedne, in manchen auch gar keine Vorstellungen, und die Folge sind endlose Verwirrungen und Streitig¬ keiten. Noch schlimmer aber ist es, wenn das Schlagwort zum Beweismittel gemacht wird, ein Verfahren, das leider in den politischen Erörterungen der Tagespresse und in Volksreden bereits in sehr weiten: Umfange geübt wird. Wenn sich schon unter den Anhängern einer Partei immer nur wenige finden, die über die Gründe ihrer Überzeugungen und ihrer Stellungnahme sich Rechen¬ schaft gegeben haben und zu gebe» vermögen, so wirkt die eben bezeichnete BeHandlungsweise streitiger Fragen leider noch weiter auf die Abstumpfung des vorurteilsfreien, prüfenden Denkens hin. Genüsse Schlagwörter haben allgemein oder wenigstens in bestimmten Kreisen einen guten, andre einen bösen Klang; und wenn sich auch das Bewußtsein ihrer eigentlichen und ursprüng¬ lichen Bedeutung völlig verdunkelt hat oder die Bedeutung im Laufe der Zeit eine andre geworden ist, so bleiben doch die damit verbundnen Vorurteile in Geltung, und es genügt, daß man ein entsprechendes Schlagwort auf eine Sache geschickt anzuwenden weiß, um der Billigung oder Mißbilligung der Masse sicher zu sein. Das Wort Doktrinarismus gehört zu denen, die in unsrer Zeit gewöhn¬ lich einen Übeln Klang haben; ein Doktrinär heißt etwa so viel wie ein Mann, dem die Urteilsfähigkeit abgeht, der durch langes und einseitiges Studium über den Begriffen die Dinge vergessen hat u. s. w. Es lohnt sich nach dem vorher bemerkten vielleicht zu untersuche», ob diese Beurteilung, wenn wir auf deu eigeiitlichen und richtigen Sinn des Begriffes zurückgehen, thatsächlich und in allen Fällen berechtigt ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/72>, abgerufen am 03.05.2024.