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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Alte und neue Stimmen aus England liber Deutschland

Münsterbau keinen Veitrag von außerhalb nuzuuehmeu, und die Erklärung
der Domherren von Sevilla: "Wir Wollen eine Kirche bauen, daß uns die
Nachkommen für Narren halten sollen." Sie verzichteten zu Gunsten des
Baufonds auf den größten Teil ihrer Einkünfte, und ihre Nachfolger thaten
ein paar hundert Jahre hindurch dasselbe. (Bor einigen Jahren haben so
ziemlich alle deutschen Zeitungen die unrichtige Angabe abgedruckt, daß die
jetzige Kathedrale von Sevilla ursprünglich eine maurische Moschee gewesen sei.)

Alle diese Gebiete des Lebens haben sich natürlicherweise unter dem Ein¬
flüsse der Kirche, aber keineswegs in knechtischer Abhängigkeit von ihr ent¬
wickelt, sondern jedes selbständig, und bald in freundschaftlicher Wechselwirkung,
bald im Kampfe mit ihr. Denn es kann nicht oft genug gesagt werden, das
Leben hat niemals, auch im Mittelalter nicht, auf einem einzelnen und einzigen
"Prinzip" beruht, sondern es beruht jederzeit auf einer großen Menge von
Judividual- und Gesellschaftskräfteu. Eine einzelne dieser Kräfte -kann so
mächtig werden, daß sie einem ganzen Zeitalter ihr Gepräge aufdrückt, wie
das dem Geiste der römischen Kirche einige Jahrhunderte hindurch gelungen
ist; aber die Selbständigkeit der übrigen Kräfte ist durch jenen Geist nirgends
wesentlich geschwächt, geschweige denn gebrochen worden. Weit entfernt davon,
daß wir beim Ausgange des Mittelalters Europa in byzantinisch-chinesischer
Erstarrung finden sollten, finden wir es in einer gewaltigen Gährung über¬
schäumender, zukunftsschwnngerer Geister.




Alte und neue stimmen aus England über Deutschland
Oon Milhelin Henkel

ur Zeit meiner akademischen Wanderjahre unternahm ich in
meinen Mußestunden mit Vorliebe Streifzüge nach jenem stille",
schattenspendendeu Oaseuidhll, das den Kuppelkolvß Se. Pauls
schirmend umschließt und von jener langen dunkeln Gasse, dem
Bttchhändler-Ghetto Altlondons, dem Paternoster-Now, begrenzt
wird; dann in Oxford nach einem Gäßchen, dessen epheuüberwucherte, fast
tausendjährige Grenzmauern uuter alten Riesenkastauieu die Inschrift tragen:
Oäi xroüruum ont^us ot arvöo. Die beiden heimlichen Stätten waren und
sind teilweise noch jetzt Fundgruben für Sammler von Viicherknrivsitäten, wo
dank der Unwissenheit und der Ungelenkigkeit des englischen Durchschnitts-


Alte und neue Stimmen aus England liber Deutschland

Münsterbau keinen Veitrag von außerhalb nuzuuehmeu, und die Erklärung
der Domherren von Sevilla: „Wir Wollen eine Kirche bauen, daß uns die
Nachkommen für Narren halten sollen." Sie verzichteten zu Gunsten des
Baufonds auf den größten Teil ihrer Einkünfte, und ihre Nachfolger thaten
ein paar hundert Jahre hindurch dasselbe. (Bor einigen Jahren haben so
ziemlich alle deutschen Zeitungen die unrichtige Angabe abgedruckt, daß die
jetzige Kathedrale von Sevilla ursprünglich eine maurische Moschee gewesen sei.)

Alle diese Gebiete des Lebens haben sich natürlicherweise unter dem Ein¬
flüsse der Kirche, aber keineswegs in knechtischer Abhängigkeit von ihr ent¬
wickelt, sondern jedes selbständig, und bald in freundschaftlicher Wechselwirkung,
bald im Kampfe mit ihr. Denn es kann nicht oft genug gesagt werden, das
Leben hat niemals, auch im Mittelalter nicht, auf einem einzelnen und einzigen
„Prinzip" beruht, sondern es beruht jederzeit auf einer großen Menge von
Judividual- und Gesellschaftskräfteu. Eine einzelne dieser Kräfte -kann so
mächtig werden, daß sie einem ganzen Zeitalter ihr Gepräge aufdrückt, wie
das dem Geiste der römischen Kirche einige Jahrhunderte hindurch gelungen
ist; aber die Selbständigkeit der übrigen Kräfte ist durch jenen Geist nirgends
wesentlich geschwächt, geschweige denn gebrochen worden. Weit entfernt davon,
daß wir beim Ausgange des Mittelalters Europa in byzantinisch-chinesischer
Erstarrung finden sollten, finden wir es in einer gewaltigen Gährung über¬
schäumender, zukunftsschwnngerer Geister.




Alte und neue stimmen aus England über Deutschland
Oon Milhelin Henkel

ur Zeit meiner akademischen Wanderjahre unternahm ich in
meinen Mußestunden mit Vorliebe Streifzüge nach jenem stille»,
schattenspendendeu Oaseuidhll, das den Kuppelkolvß Se. Pauls
schirmend umschließt und von jener langen dunkeln Gasse, dem
Bttchhändler-Ghetto Altlondons, dem Paternoster-Now, begrenzt
wird; dann in Oxford nach einem Gäßchen, dessen epheuüberwucherte, fast
tausendjährige Grenzmauern uuter alten Riesenkastauieu die Inschrift tragen:
Oäi xroüruum ont^us ot arvöo. Die beiden heimlichen Stätten waren und
sind teilweise noch jetzt Fundgruben für Sammler von Viicherknrivsitäten, wo
dank der Unwissenheit und der Ungelenkigkeit des englischen Durchschnitts-


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[0221] Alte und neue Stimmen aus England liber Deutschland Münsterbau keinen Veitrag von außerhalb nuzuuehmeu, und die Erklärung der Domherren von Sevilla: „Wir Wollen eine Kirche bauen, daß uns die Nachkommen für Narren halten sollen." Sie verzichteten zu Gunsten des Baufonds auf den größten Teil ihrer Einkünfte, und ihre Nachfolger thaten ein paar hundert Jahre hindurch dasselbe. (Bor einigen Jahren haben so ziemlich alle deutschen Zeitungen die unrichtige Angabe abgedruckt, daß die jetzige Kathedrale von Sevilla ursprünglich eine maurische Moschee gewesen sei.) Alle diese Gebiete des Lebens haben sich natürlicherweise unter dem Ein¬ flüsse der Kirche, aber keineswegs in knechtischer Abhängigkeit von ihr ent¬ wickelt, sondern jedes selbständig, und bald in freundschaftlicher Wechselwirkung, bald im Kampfe mit ihr. Denn es kann nicht oft genug gesagt werden, das Leben hat niemals, auch im Mittelalter nicht, auf einem einzelnen und einzigen „Prinzip" beruht, sondern es beruht jederzeit auf einer großen Menge von Judividual- und Gesellschaftskräfteu. Eine einzelne dieser Kräfte -kann so mächtig werden, daß sie einem ganzen Zeitalter ihr Gepräge aufdrückt, wie das dem Geiste der römischen Kirche einige Jahrhunderte hindurch gelungen ist; aber die Selbständigkeit der übrigen Kräfte ist durch jenen Geist nirgends wesentlich geschwächt, geschweige denn gebrochen worden. Weit entfernt davon, daß wir beim Ausgange des Mittelalters Europa in byzantinisch-chinesischer Erstarrung finden sollten, finden wir es in einer gewaltigen Gährung über¬ schäumender, zukunftsschwnngerer Geister. Alte und neue stimmen aus England über Deutschland Oon Milhelin Henkel ur Zeit meiner akademischen Wanderjahre unternahm ich in meinen Mußestunden mit Vorliebe Streifzüge nach jenem stille», schattenspendendeu Oaseuidhll, das den Kuppelkolvß Se. Pauls schirmend umschließt und von jener langen dunkeln Gasse, dem Bttchhändler-Ghetto Altlondons, dem Paternoster-Now, begrenzt wird; dann in Oxford nach einem Gäßchen, dessen epheuüberwucherte, fast tausendjährige Grenzmauern uuter alten Riesenkastauieu die Inschrift tragen: Oäi xroüruum ont^us ot arvöo. Die beiden heimlichen Stätten waren und sind teilweise noch jetzt Fundgruben für Sammler von Viicherknrivsitäten, wo dank der Unwissenheit und der Ungelenkigkeit des englischen Durchschnitts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/221>, abgerufen am 03.05.2024.