Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Nmnaßgel'liebes Kohlen, Wohnung und die notdiirftigste Kleidung draufgeht. Das ist das ganze Der Berliner Schloßbrnnnen. Wo sonst um diese Zeit der Weihnachts¬ Müd und stumpf, blasirt und frech, so blickt es aus deu Augen der vier Maßgebliches und Nmnaßgel'liebes Kohlen, Wohnung und die notdiirftigste Kleidung draufgeht. Das ist das ganze Der Berliner Schloßbrnnnen. Wo sonst um diese Zeit der Weihnachts¬ Müd und stumpf, blasirt und frech, so blickt es aus deu Augen der vier <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0046" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211214"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Nmnaßgel'liebes</fw><lb/> <p xml:id="ID_139" prev="#ID_138"> Kohlen, Wohnung und die notdiirftigste Kleidung draufgeht. Das ist das ganze<lb/> Geheimnis. Daran kann die Regierung nichts ändern, mag sie sich Vertrauen<lb/> zu erwerben verstehen oder nicht. Die 8»turäa^ Roviov bringt in jeder Nummer<lb/> die Betrachtung wieder! Europa hat teils überhaupt, teils infolge schlechter Ernten<lb/> zu wenig Brot, daher gehen in ganz Europa die Geschäfte schlecht; Nordamerika<lb/> kann Unmassen Brodgetreide ausführen, darum gehen dort die Geschäfte gut.<lb/> Die Getreidesendungen Amerikas nach Europa, hieß es in der Nummer vom 19.<lb/> Dezember werden bis zur nächsten Ernte fortdauern, und so scheint es denn gewiß,<lb/> daß die amerikanischen Kapitalisten so viel Geld aus Europa ziehen können, als<lb/> ihnen beliebt stlrus it Sohns eLrtain eine ^mvrie-rü e^pitatists c;an tu.Ke s.»<lb/> wuot Avis kron ISuropo »8 tho/ rs«>miro). Was nützt uns unsre berühmte all¬<lb/> gemeine Schulbildung, wenn dabei so dicke und handgreifliche Thatsachen, wie die<lb/> entscheidende Bedeutung der Bvdenprodnktenmenge für den Volkswohlstand, die der<lb/> Selbsterhnltnngsinstinkt und gesunde Menschenverstand ungebildeter Völker zu allen<lb/> Zeiten ganz klar erkannt hat, bei uns dem allgemeinen Bewußtsein so vollständig<lb/> entschwinden, das sich bei eintretenden Nöten ganz künstliche, unnatürliche und<lb/> thörichte Erklärungsversuche mit einiger Aussicht auf Erfolg hervorwagen können?<lb/> Der Fall, daß Volker trotz ungenügender Bodenprodnktion und selbst ohne alle<lb/> Bodenprodnktion, ja fast ohne Boden, durch Handel und Industrie Reichtum auf-<lb/> zuhäufen vermochten, Reichtümer, die nicht bloß die Spitzen der Gesellschaft ver¬<lb/> goldeten, wie im heutigen England, sondern bis in die untersten Volksschichten<lb/> hinein Wohlstand und Wohlleben verbreiteten, ist allerdings in der Weltgeschichte<lb/> schon einigemal dagewesen. Aber erstens handelte es sich bei Staaten wie Phönizien,<lb/> Venedig und den Niederlanden nicht um Fünfziginillionenvolker, sondern blos um<lb/> winzige Völklein; zweitens waren diese Völklein im Handel oder in der Industrie<lb/> oder in beiden den großen Völkern ihrer Zeit so weit voraus, daß diese ihr Ab¬<lb/> satzgebiet bildeten und daß sie ihnen Monopolpreise machen konnten. Davon ist<lb/> heute nicht mehr die Rede. Heute sind alle europäischen Staaten mit Ausnahme<lb/> Rußlands und der Balkanländer Industrie- und Handelsstaaten geworden, nur<lb/> daß Italien in der Industrie, Spanien in Industrie und Handel hinter den übrigen<lb/> noch stark zurückbleiben, beide zum Glück für den Volkscharakter. Heute gilt für<lb/> alle Völker gleichmäßig, was von Haus aus das Natürlichste ist, daß die Jahres¬<lb/> einnahme eines jeden der Hauptsache nach in seiner Bodenprodnktion besteht, und<lb/> daß, wenn deren Zunahme mit dem Bevölkerungszuwachs nicht mehr gleichen<lb/> Schritt zu halten vermag, Verarmung unausbleiblich ist. Geschäftsstvckuugen, Ver¬<lb/> schuldung des Grundbesitzes n. s. w. sind alles nnr Symptome der Verarmung.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Der Berliner Schloßbrnnnen.</head> <p xml:id="ID_140"> Wo sonst um diese Zeit der Weihnachts¬<lb/> markt wogte mit seiner Holz- und Pfefferkucheuplastik, da ragt jetzt in Erz ge¬<lb/> gossen der Wasscrgott mit seinen vier Wasserfranen, mit den plätschernden Jungen<lb/> und dem wimmelnden, wasserspeienden Getier. Leider fehlt — das Wasser. So<lb/> schaut denn das Ganze recht gespenstisch drein, wie mitten in der Thätigkeit ver¬<lb/> zaubert — wenn nur nicht sonst so all und jeder Zauber fehlte!</p><lb/> <p xml:id="ID_141" next="#ID_142"> Müd und stumpf, blasirt und frech, so blickt es aus deu Augen der vier<lb/> Riesenweiber. Wenig über die Hohe des Straßenpflasters hinausgehoben, strecken<lb/> sie ihre widerlich dicken Beine fast in den Kot, aus dein sie stammen, und wohin<lb/> sie zurückzuverlangen scheinen. Meist mit jungfräulicher Brustbildung, doch starker<lb/> Fettentwicklnng, daß es faltet und quillt, wie bei Frauen, die — wie sie es<lb/> nennen — ihr Leben genießen, ohne sich dabei deu Beschwerde» der Mutterbrust<lb/> zu unterziehen/'! Eignes Wesen erhalten sie durch allerlei Attribute. Die eine hält<lb/> in ^gespreizten Fingern eine Weintraube, die zweite hat sich als Schnitterin verkleidet.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0046]
Maßgebliches und Nmnaßgel'liebes
Kohlen, Wohnung und die notdiirftigste Kleidung draufgeht. Das ist das ganze
Geheimnis. Daran kann die Regierung nichts ändern, mag sie sich Vertrauen
zu erwerben verstehen oder nicht. Die 8»turäa^ Roviov bringt in jeder Nummer
die Betrachtung wieder! Europa hat teils überhaupt, teils infolge schlechter Ernten
zu wenig Brot, daher gehen in ganz Europa die Geschäfte schlecht; Nordamerika
kann Unmassen Brodgetreide ausführen, darum gehen dort die Geschäfte gut.
Die Getreidesendungen Amerikas nach Europa, hieß es in der Nummer vom 19.
Dezember werden bis zur nächsten Ernte fortdauern, und so scheint es denn gewiß,
daß die amerikanischen Kapitalisten so viel Geld aus Europa ziehen können, als
ihnen beliebt stlrus it Sohns eLrtain eine ^mvrie-rü e^pitatists c;an tu.Ke s.»
wuot Avis kron ISuropo »8 tho/ rs«>miro). Was nützt uns unsre berühmte all¬
gemeine Schulbildung, wenn dabei so dicke und handgreifliche Thatsachen, wie die
entscheidende Bedeutung der Bvdenprodnktenmenge für den Volkswohlstand, die der
Selbsterhnltnngsinstinkt und gesunde Menschenverstand ungebildeter Völker zu allen
Zeiten ganz klar erkannt hat, bei uns dem allgemeinen Bewußtsein so vollständig
entschwinden, das sich bei eintretenden Nöten ganz künstliche, unnatürliche und
thörichte Erklärungsversuche mit einiger Aussicht auf Erfolg hervorwagen können?
Der Fall, daß Volker trotz ungenügender Bodenprodnktion und selbst ohne alle
Bodenprodnktion, ja fast ohne Boden, durch Handel und Industrie Reichtum auf-
zuhäufen vermochten, Reichtümer, die nicht bloß die Spitzen der Gesellschaft ver¬
goldeten, wie im heutigen England, sondern bis in die untersten Volksschichten
hinein Wohlstand und Wohlleben verbreiteten, ist allerdings in der Weltgeschichte
schon einigemal dagewesen. Aber erstens handelte es sich bei Staaten wie Phönizien,
Venedig und den Niederlanden nicht um Fünfziginillionenvolker, sondern blos um
winzige Völklein; zweitens waren diese Völklein im Handel oder in der Industrie
oder in beiden den großen Völkern ihrer Zeit so weit voraus, daß diese ihr Ab¬
satzgebiet bildeten und daß sie ihnen Monopolpreise machen konnten. Davon ist
heute nicht mehr die Rede. Heute sind alle europäischen Staaten mit Ausnahme
Rußlands und der Balkanländer Industrie- und Handelsstaaten geworden, nur
daß Italien in der Industrie, Spanien in Industrie und Handel hinter den übrigen
noch stark zurückbleiben, beide zum Glück für den Volkscharakter. Heute gilt für
alle Völker gleichmäßig, was von Haus aus das Natürlichste ist, daß die Jahres¬
einnahme eines jeden der Hauptsache nach in seiner Bodenprodnktion besteht, und
daß, wenn deren Zunahme mit dem Bevölkerungszuwachs nicht mehr gleichen
Schritt zu halten vermag, Verarmung unausbleiblich ist. Geschäftsstvckuugen, Ver¬
schuldung des Grundbesitzes n. s. w. sind alles nnr Symptome der Verarmung.
Der Berliner Schloßbrnnnen. Wo sonst um diese Zeit der Weihnachts¬
markt wogte mit seiner Holz- und Pfefferkucheuplastik, da ragt jetzt in Erz ge¬
gossen der Wasscrgott mit seinen vier Wasserfranen, mit den plätschernden Jungen
und dem wimmelnden, wasserspeienden Getier. Leider fehlt — das Wasser. So
schaut denn das Ganze recht gespenstisch drein, wie mitten in der Thätigkeit ver¬
zaubert — wenn nur nicht sonst so all und jeder Zauber fehlte!
Müd und stumpf, blasirt und frech, so blickt es aus deu Augen der vier
Riesenweiber. Wenig über die Hohe des Straßenpflasters hinausgehoben, strecken
sie ihre widerlich dicken Beine fast in den Kot, aus dein sie stammen, und wohin
sie zurückzuverlangen scheinen. Meist mit jungfräulicher Brustbildung, doch starker
Fettentwicklnng, daß es faltet und quillt, wie bei Frauen, die — wie sie es
nennen — ihr Leben genießen, ohne sich dabei deu Beschwerde» der Mutterbrust
zu unterziehen/'! Eignes Wesen erhalten sie durch allerlei Attribute. Die eine hält
in ^gespreizten Fingern eine Weintraube, die zweite hat sich als Schnitterin verkleidet.
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