Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
?lat ^ustitia!

legenden der Parteien groß. Die alten Parteien haben abgewirtschaftet, wie
der jetzige Finanzminister vor ein paar Jahren richtig ausgeführt hat; ihre
Namen haben keinen Sinn mehr. Was ihnen noch einigermaßen Daseins¬
berechtigung verleiht, das find die Klasseninteressen. die sich unter dem durch¬
sichtigen Schleier der Programmphrasen regen. Aber seitdem die Großindu¬
striellen mit den Agrariern das Schutzzollkartell geschlossen hatten, und der
Kampf der Deutschfreisinnigen "gegen die Lebensmittelverteuerung," d. h. für
die Getreidehändler durch die Handelsverträge einstweilen gegenstandslos ge¬
worden war, fingen sie an, die klägliche Figur des Greises auf dem Dache
zu spielen; und da wurde denn Graf Zedlitz mit seinem Entwurf als rettender
Engel begrüßt. Für den Parteikampf ist wieder ein Gegenstand gefunden,
die Parteien fühlen sich noch einmal daseinsberechtigt. Weil aber mit den
alten Kulturkampfphrasen wirklich nicht mehr viel Staat zu machen ist, so
war es ein glücklicher Gedanke, dem großen Geistcrkampfe ein scheinbar neues
Ziel zu stecken mit der hochtönenden Losung, es sei notwendig, den schwin¬
denden Einfluß des "liberalen Bürgertums" wieder herzustellen.

Endlich viertens drängt die soziale Sphinx; die Zeit rückt näher, wo es heißen
wird: das Rätsel lösen oder in den Abgrund springen! Niemand fühlt sich
unfähiger zur Lösung als die Liberalen; niemand ist daher eifriger beflissen,
sich selbst den Anblick des grausigen Ungetüms zu verbergen und die Blicke
der Menge davon abzuwenden als sie. Ein großer Rummel, ein bedeutender
Lärm über ein Nichts, das gerade ist es, was man in solcher Lage braucht!
Über ein Nichts, sagen wir, nicht etwa als ob die Volksschule ein Nichts
wäre, sondern weil die Liberalen nicht imstande sind, statt des bekämpften
Entwurfs etwas andres, ein Etwas zu liefern.




I^t ^U3titi^!

chon wiederholt haben wir in diesen Heften auf das Schwinden
des Gerechtigkeitssinnes in der öffentlichen Meinung Deutsch¬
lands hingewiesen. Wir müssen heute leider den frühern Bei¬
spielen ein neues, außerordentlich betrübendes hinzufügen. In
der "Post," die mit Recht als eins der vornehmsten und an¬
gesehensten Blätter gilt, finden wir einen Artikel über die Rechtsbelehrung


?lat ^ustitia!

legenden der Parteien groß. Die alten Parteien haben abgewirtschaftet, wie
der jetzige Finanzminister vor ein paar Jahren richtig ausgeführt hat; ihre
Namen haben keinen Sinn mehr. Was ihnen noch einigermaßen Daseins¬
berechtigung verleiht, das find die Klasseninteressen. die sich unter dem durch¬
sichtigen Schleier der Programmphrasen regen. Aber seitdem die Großindu¬
striellen mit den Agrariern das Schutzzollkartell geschlossen hatten, und der
Kampf der Deutschfreisinnigen „gegen die Lebensmittelverteuerung," d. h. für
die Getreidehändler durch die Handelsverträge einstweilen gegenstandslos ge¬
worden war, fingen sie an, die klägliche Figur des Greises auf dem Dache
zu spielen; und da wurde denn Graf Zedlitz mit seinem Entwurf als rettender
Engel begrüßt. Für den Parteikampf ist wieder ein Gegenstand gefunden,
die Parteien fühlen sich noch einmal daseinsberechtigt. Weil aber mit den
alten Kulturkampfphrasen wirklich nicht mehr viel Staat zu machen ist, so
war es ein glücklicher Gedanke, dem großen Geistcrkampfe ein scheinbar neues
Ziel zu stecken mit der hochtönenden Losung, es sei notwendig, den schwin¬
denden Einfluß des „liberalen Bürgertums" wieder herzustellen.

Endlich viertens drängt die soziale Sphinx; die Zeit rückt näher, wo es heißen
wird: das Rätsel lösen oder in den Abgrund springen! Niemand fühlt sich
unfähiger zur Lösung als die Liberalen; niemand ist daher eifriger beflissen,
sich selbst den Anblick des grausigen Ungetüms zu verbergen und die Blicke
der Menge davon abzuwenden als sie. Ein großer Rummel, ein bedeutender
Lärm über ein Nichts, das gerade ist es, was man in solcher Lage braucht!
Über ein Nichts, sagen wir, nicht etwa als ob die Volksschule ein Nichts
wäre, sondern weil die Liberalen nicht imstande sind, statt des bekämpften
Entwurfs etwas andres, ein Etwas zu liefern.




I^t ^U3titi^!

chon wiederholt haben wir in diesen Heften auf das Schwinden
des Gerechtigkeitssinnes in der öffentlichen Meinung Deutsch¬
lands hingewiesen. Wir müssen heute leider den frühern Bei¬
spielen ein neues, außerordentlich betrübendes hinzufügen. In
der „Post," die mit Recht als eins der vornehmsten und an¬
gesehensten Blätter gilt, finden wir einen Artikel über die Rechtsbelehrung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0479" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211647"/>
          <fw type="header" place="top"> ?lat ^ustitia!</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1399" prev="#ID_1398"> legenden der Parteien groß. Die alten Parteien haben abgewirtschaftet, wie<lb/>
der jetzige Finanzminister vor ein paar Jahren richtig ausgeführt hat; ihre<lb/>
Namen haben keinen Sinn mehr. Was ihnen noch einigermaßen Daseins¬<lb/>
berechtigung verleiht, das find die Klasseninteressen. die sich unter dem durch¬<lb/>
sichtigen Schleier der Programmphrasen regen. Aber seitdem die Großindu¬<lb/>
striellen mit den Agrariern das Schutzzollkartell geschlossen hatten, und der<lb/>
Kampf der Deutschfreisinnigen &#x201E;gegen die Lebensmittelverteuerung," d. h. für<lb/>
die Getreidehändler durch die Handelsverträge einstweilen gegenstandslos ge¬<lb/>
worden war, fingen sie an, die klägliche Figur des Greises auf dem Dache<lb/>
zu spielen; und da wurde denn Graf Zedlitz mit seinem Entwurf als rettender<lb/>
Engel begrüßt. Für den Parteikampf ist wieder ein Gegenstand gefunden,<lb/>
die Parteien fühlen sich noch einmal daseinsberechtigt. Weil aber mit den<lb/>
alten Kulturkampfphrasen wirklich nicht mehr viel Staat zu machen ist, so<lb/>
war es ein glücklicher Gedanke, dem großen Geistcrkampfe ein scheinbar neues<lb/>
Ziel zu stecken mit der hochtönenden Losung, es sei notwendig, den schwin¬<lb/>
denden Einfluß des &#x201E;liberalen Bürgertums" wieder herzustellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1400"> Endlich viertens drängt die soziale Sphinx; die Zeit rückt näher, wo es heißen<lb/>
wird: das Rätsel lösen oder in den Abgrund springen! Niemand fühlt sich<lb/>
unfähiger zur Lösung als die Liberalen; niemand ist daher eifriger beflissen,<lb/>
sich selbst den Anblick des grausigen Ungetüms zu verbergen und die Blicke<lb/>
der Menge davon abzuwenden als sie. Ein großer Rummel, ein bedeutender<lb/>
Lärm über ein Nichts, das gerade ist es, was man in solcher Lage braucht!<lb/>
Über ein Nichts, sagen wir, nicht etwa als ob die Volksschule ein Nichts<lb/>
wäre, sondern weil die Liberalen nicht imstande sind, statt des bekämpften<lb/>
Entwurfs etwas andres, ein Etwas zu liefern.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> I^t ^U3titi^!</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1401" next="#ID_1402"> chon wiederholt haben wir in diesen Heften auf das Schwinden<lb/>
des Gerechtigkeitssinnes in der öffentlichen Meinung Deutsch¬<lb/>
lands hingewiesen. Wir müssen heute leider den frühern Bei¬<lb/>
spielen ein neues, außerordentlich betrübendes hinzufügen. In<lb/>
der &#x201E;Post," die mit Recht als eins der vornehmsten und an¬<lb/>
gesehensten Blätter gilt, finden wir einen Artikel über die Rechtsbelehrung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0479] ?lat ^ustitia! legenden der Parteien groß. Die alten Parteien haben abgewirtschaftet, wie der jetzige Finanzminister vor ein paar Jahren richtig ausgeführt hat; ihre Namen haben keinen Sinn mehr. Was ihnen noch einigermaßen Daseins¬ berechtigung verleiht, das find die Klasseninteressen. die sich unter dem durch¬ sichtigen Schleier der Programmphrasen regen. Aber seitdem die Großindu¬ striellen mit den Agrariern das Schutzzollkartell geschlossen hatten, und der Kampf der Deutschfreisinnigen „gegen die Lebensmittelverteuerung," d. h. für die Getreidehändler durch die Handelsverträge einstweilen gegenstandslos ge¬ worden war, fingen sie an, die klägliche Figur des Greises auf dem Dache zu spielen; und da wurde denn Graf Zedlitz mit seinem Entwurf als rettender Engel begrüßt. Für den Parteikampf ist wieder ein Gegenstand gefunden, die Parteien fühlen sich noch einmal daseinsberechtigt. Weil aber mit den alten Kulturkampfphrasen wirklich nicht mehr viel Staat zu machen ist, so war es ein glücklicher Gedanke, dem großen Geistcrkampfe ein scheinbar neues Ziel zu stecken mit der hochtönenden Losung, es sei notwendig, den schwin¬ denden Einfluß des „liberalen Bürgertums" wieder herzustellen. Endlich viertens drängt die soziale Sphinx; die Zeit rückt näher, wo es heißen wird: das Rätsel lösen oder in den Abgrund springen! Niemand fühlt sich unfähiger zur Lösung als die Liberalen; niemand ist daher eifriger beflissen, sich selbst den Anblick des grausigen Ungetüms zu verbergen und die Blicke der Menge davon abzuwenden als sie. Ein großer Rummel, ein bedeutender Lärm über ein Nichts, das gerade ist es, was man in solcher Lage braucht! Über ein Nichts, sagen wir, nicht etwa als ob die Volksschule ein Nichts wäre, sondern weil die Liberalen nicht imstande sind, statt des bekämpften Entwurfs etwas andres, ein Etwas zu liefern. I^t ^U3titi^! chon wiederholt haben wir in diesen Heften auf das Schwinden des Gerechtigkeitssinnes in der öffentlichen Meinung Deutsch¬ lands hingewiesen. Wir müssen heute leider den frühern Bei¬ spielen ein neues, außerordentlich betrübendes hinzufügen. In der „Post," die mit Recht als eins der vornehmsten und an¬ gesehensten Blätter gilt, finden wir einen Artikel über die Rechtsbelehrung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/479
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/479>, abgerufen am 06.05.2024.