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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum,
Staat und Kirche
Geschichtsphilosophische Gedanken ^5 (Schluß)

v" der verschiednen Färbung der Sittlichkeit dnrch die Kon-
fessionen ist zwar gelegentlich schon die Rede gewesen, aber ge¬
wisse Streitfragen über diesen Punkt können wir doch nicht ganz
mit Stillschweigen übergehn. Diese Streitfragen sind sehr ein¬
träglich für den Buchhandel, denn sie erzengen seit Jahrhunderten
jahraus jahrein eine Menge Bücher und Schriften, die meistens gar nicht
schlecht gehn, aber das ist auch ihr einziger Nutzen; für die Praxis, für die
Vvlkssittlichkeit sind sie ohne alle Bedeutung.

Ganz besonders auf dem Gebiete der Sittlichkeit wird dein Katholiken
das Verständnis abgesprochen; ein Katholik, schreibt der früher erwähnte Amiet,
werde niemals die protestantische Sittlichkeit versteh". Aber versteht er sie
selbst, ja versteht er sich selbst? Man liest seine tiefsinnigen, von heißem
Verlange" nach Wahrheit und Heiligkeit durchglühten Betrachtungen mit An¬
dacht und Rührung, aber eine feste Richtschnur des Glaubens lind Handelns
sucht mau vergebens darin. Das Christentum, heißt es da u. a., werde bis
auf de" heutigen Tag nicht verstanden, ja die wahre Religion erscheine den
meisten Christen lästerlich. Die Kirche -- er meint hier offenbar alles, was
sich nur irgend Kirche nennt -- sei ketzerisch. "Wohl oder übel, es giebt
eine esoterische Lehre. Es giebt eine relative Offenbarung; jeder dringt so
weit ein in Gott, als Gott in ihn eingeht, wie, glaube ich, Angelus Silesius
sagt." (Christliche Welt, Jahrgang 1891 Ur. 37). Das ist richtig, und wer
sich zur Höhe dieses Mystikers, der übrigens sehr eifrig für seine, die katho¬
lische Kirche eingetreten ist, emporschwingt, der braucht eigentlich kein äußer¬
liches Kirchenwesen, aber beim Volke und bei der Jugend, denen wir doch
wohl den Weg zu zeigen verpflichtet sind, ist mit privaten Erleuchtungen nichts
anzufangen. Als das Wesen der wahren christlichen Sittlichkeit bezeichnet




Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum,
Staat und Kirche
Geschichtsphilosophische Gedanken ^5 (Schluß)

v» der verschiednen Färbung der Sittlichkeit dnrch die Kon-
fessionen ist zwar gelegentlich schon die Rede gewesen, aber ge¬
wisse Streitfragen über diesen Punkt können wir doch nicht ganz
mit Stillschweigen übergehn. Diese Streitfragen sind sehr ein¬
träglich für den Buchhandel, denn sie erzengen seit Jahrhunderten
jahraus jahrein eine Menge Bücher und Schriften, die meistens gar nicht
schlecht gehn, aber das ist auch ihr einziger Nutzen; für die Praxis, für die
Vvlkssittlichkeit sind sie ohne alle Bedeutung.

Ganz besonders auf dem Gebiete der Sittlichkeit wird dein Katholiken
das Verständnis abgesprochen; ein Katholik, schreibt der früher erwähnte Amiet,
werde niemals die protestantische Sittlichkeit versteh«. Aber versteht er sie
selbst, ja versteht er sich selbst? Man liest seine tiefsinnigen, von heißem
Verlange» nach Wahrheit und Heiligkeit durchglühten Betrachtungen mit An¬
dacht und Rührung, aber eine feste Richtschnur des Glaubens lind Handelns
sucht mau vergebens darin. Das Christentum, heißt es da u. a., werde bis
auf de» heutigen Tag nicht verstanden, ja die wahre Religion erscheine den
meisten Christen lästerlich. Die Kirche — er meint hier offenbar alles, was
sich nur irgend Kirche nennt — sei ketzerisch. „Wohl oder übel, es giebt
eine esoterische Lehre. Es giebt eine relative Offenbarung; jeder dringt so
weit ein in Gott, als Gott in ihn eingeht, wie, glaube ich, Angelus Silesius
sagt." (Christliche Welt, Jahrgang 1891 Ur. 37). Das ist richtig, und wer
sich zur Höhe dieses Mystikers, der übrigens sehr eifrig für seine, die katho¬
lische Kirche eingetreten ist, emporschwingt, der braucht eigentlich kein äußer¬
liches Kirchenwesen, aber beim Volke und bei der Jugend, denen wir doch
wohl den Weg zu zeigen verpflichtet sind, ist mit privaten Erleuchtungen nichts
anzufangen. Als das Wesen der wahren christlichen Sittlichkeit bezeichnet


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[0532] [Abbildung] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche Geschichtsphilosophische Gedanken ^5 (Schluß) v» der verschiednen Färbung der Sittlichkeit dnrch die Kon- fessionen ist zwar gelegentlich schon die Rede gewesen, aber ge¬ wisse Streitfragen über diesen Punkt können wir doch nicht ganz mit Stillschweigen übergehn. Diese Streitfragen sind sehr ein¬ träglich für den Buchhandel, denn sie erzengen seit Jahrhunderten jahraus jahrein eine Menge Bücher und Schriften, die meistens gar nicht schlecht gehn, aber das ist auch ihr einziger Nutzen; für die Praxis, für die Vvlkssittlichkeit sind sie ohne alle Bedeutung. Ganz besonders auf dem Gebiete der Sittlichkeit wird dein Katholiken das Verständnis abgesprochen; ein Katholik, schreibt der früher erwähnte Amiet, werde niemals die protestantische Sittlichkeit versteh«. Aber versteht er sie selbst, ja versteht er sich selbst? Man liest seine tiefsinnigen, von heißem Verlange» nach Wahrheit und Heiligkeit durchglühten Betrachtungen mit An¬ dacht und Rührung, aber eine feste Richtschnur des Glaubens lind Handelns sucht mau vergebens darin. Das Christentum, heißt es da u. a., werde bis auf de» heutigen Tag nicht verstanden, ja die wahre Religion erscheine den meisten Christen lästerlich. Die Kirche — er meint hier offenbar alles, was sich nur irgend Kirche nennt — sei ketzerisch. „Wohl oder übel, es giebt eine esoterische Lehre. Es giebt eine relative Offenbarung; jeder dringt so weit ein in Gott, als Gott in ihn eingeht, wie, glaube ich, Angelus Silesius sagt." (Christliche Welt, Jahrgang 1891 Ur. 37). Das ist richtig, und wer sich zur Höhe dieses Mystikers, der übrigens sehr eifrig für seine, die katho¬ lische Kirche eingetreten ist, emporschwingt, der braucht eigentlich kein äußer¬ liches Kirchenwesen, aber beim Volke und bei der Jugend, denen wir doch wohl den Weg zu zeigen verpflichtet sind, ist mit privaten Erleuchtungen nichts anzufangen. Als das Wesen der wahren christlichen Sittlichkeit bezeichnet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/532>, abgerufen am 06.05.2024.