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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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seltsame Fortschritte

le politische Zukunft vorauszusagen hütet sich wohl jeder, der
das nicht als unkonzessionirtes und steuerfreies Gewerbe in Ver¬
sammlungen und Zeitungen betreibt; deun wie die tägliche Er¬
fahrung lehrt, macht sich die Geschichte gern das Vergnügen, die
Propheten Lügen zu strafen. Natürlich lassen sich die Wahr¬
sager von Beruf dadurch uicht irre machen, da ja das programmwidrige Ver¬
halten der Geschichte uicht ihre Schuld ist. Und auch wir andern sind unter
zwei Augen uicht immer so vorsichtig, wie vor Zeugen. Erwägt man die
Ereignisse des Tages, so läßt man sich leicht zu Schlußfolgerungen verleiten,
um hinterher wenigstens nur vor sich selbst beschämt zu werden. Wenn nun
der Schreiber dieser Zeilen freiwillig bekennt, die neuesten Wendungen und
Wandlungen ganz und gar nicht vorausgesehen zu haben, so thut er das in
der -- diesmal wohl kaum trügender -- Voraussetzung, sich zahlreicher Leidens-
gefährten zu erfreuen.

Um zuerst etwas weiter zurückzugreifen: ob wohl von allen, die das Jahr
1844 schon mit Bewußtsein erlebt haben, irgendeiner damals geglaubt haben
mag, daß das Schauspiel der Ausstellung des sogenannten heiligen Rockes in
Trier noch eine Wiederholung erfahren werde? Schwerlich! Tagesblätter aus
jener Zeit bekunden, welche Aufregung damals ganz Deutschland ergriffen
hatte. Man faßte den Einfall des streitbaren Bischofs Arnoldi öder 1836 zum
Nachfolger des milden Honuner zum Bischof gewählt, aber erst 1842 von
Friedrich Wilhelm IV. bestätigt worden war), das seit einem Menschenleben in
Vergessenheit geratene Kleid wieder auszustellen, als eine Herausforderung nicht
nnr des Protestantismus. Entrüstung flammte liberal! auf ueben den Aus¬
brüchen des bittern Hohnes, der Orientalist Gildemeister und der Historiker


Grenzboten 11892 7


seltsame Fortschritte

le politische Zukunft vorauszusagen hütet sich wohl jeder, der
das nicht als unkonzessionirtes und steuerfreies Gewerbe in Ver¬
sammlungen und Zeitungen betreibt; deun wie die tägliche Er¬
fahrung lehrt, macht sich die Geschichte gern das Vergnügen, die
Propheten Lügen zu strafen. Natürlich lassen sich die Wahr¬
sager von Beruf dadurch uicht irre machen, da ja das programmwidrige Ver¬
halten der Geschichte uicht ihre Schuld ist. Und auch wir andern sind unter
zwei Augen uicht immer so vorsichtig, wie vor Zeugen. Erwägt man die
Ereignisse des Tages, so läßt man sich leicht zu Schlußfolgerungen verleiten,
um hinterher wenigstens nur vor sich selbst beschämt zu werden. Wenn nun
der Schreiber dieser Zeilen freiwillig bekennt, die neuesten Wendungen und
Wandlungen ganz und gar nicht vorausgesehen zu haben, so thut er das in
der — diesmal wohl kaum trügender — Voraussetzung, sich zahlreicher Leidens-
gefährten zu erfreuen.

Um zuerst etwas weiter zurückzugreifen: ob wohl von allen, die das Jahr
1844 schon mit Bewußtsein erlebt haben, irgendeiner damals geglaubt haben
mag, daß das Schauspiel der Ausstellung des sogenannten heiligen Rockes in
Trier noch eine Wiederholung erfahren werde? Schwerlich! Tagesblätter aus
jener Zeit bekunden, welche Aufregung damals ganz Deutschland ergriffen
hatte. Man faßte den Einfall des streitbaren Bischofs Arnoldi öder 1836 zum
Nachfolger des milden Honuner zum Bischof gewählt, aber erst 1842 von
Friedrich Wilhelm IV. bestätigt worden war), das seit einem Menschenleben in
Vergessenheit geratene Kleid wieder auszustellen, als eine Herausforderung nicht
nnr des Protestantismus. Entrüstung flammte liberal! auf ueben den Aus¬
brüchen des bittern Hohnes, der Orientalist Gildemeister und der Historiker


Grenzboten 11892 7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/57>, abgerufen am 06.05.2024.