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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Der kleine Drache

chaischen Kunst auf keinem andern Punkte Griechenlands so genau verfolgen,
wie in Athen. Wir sehen, wie die ersten Arbeiten in Stein (Kalkstein) noch
in einer ängstlichen Nachahmung der lange geübten Holzschnitzkunst befangen
sind, und wie erst unter der Herrschaft des Peisistratos fremde, ionische Künstler
den Athenern die Technik der Arbeit in Marmor offenbart haben. Mit der
neuen Technik sind aber auch stilistische Eigentümlichkeiten der ionischen Kunst
in Athen eingedrungen, auch äginetische und andre fremde Künstler haben in
Athen gearbeitet, und die attischen Künstler mußten das ihnen fremdartige
und nicht zusagende erst wieder ausscheiden. In diesem Ringen der attischen
Schlichtheit, Frische und Anmut gegen fremde Einflüsse entwickelte sich allmäh¬
lich jene "attische Werkstatt," deren einzelne Meister immer deutlicher hervor¬
treten: Antenor, Kritios und Nesiotes, Myron und Kalcunis. Die Thätigkeit
Myrons berührt sich bereits mit der des Phidias, und die jüngsten von den
im Bauschule des Parthenon gefundnen Bildwerken führen unmittelbar zu den
Skulpturen des Parthenon selbst.

Die neue Auflage von Overbecks Geschichte der griechischen Plastik ist
aber nicht nur im Inhalt gründlich umgearbeitet und bereichert worden, auch
der äußere Schmuck des Werkes ist reicher und schöner, als in den frühern
Auflagen. Eine ganze Reihe von neuen, trefflichen Abbildungen führt dem
Leser die neuen Funde vor Augen. Der zweite Halbhart des ersten Bandes
soll noch in diesem Jahre, der zweite Band im Laufe des nächsten Jahres er¬
scheinen. Das Buch wird dann wieder ein treues Bild unsers Wissens auf
dem Gebiete der Archäologie geben. Sicherlich wird es sich auch die Gunst
der Gebildeten erhalten; auf dem deutschen Büchermarkte hat es keinen Neben¬
buhler. Wir wünschen, daß der Verfasser sein Werk in rüstiger Kraft und
Gesundheit vollenden möge!




Der kleine Drache

om Nachthimmel leuchten in stiller Klarheit viel tausend Sterne
herab; die Menschen nennen sie mit irdischen Bildern, von Göt¬
tern und Dämonen, von Ungetümen und zahmern Tieren auf
die reine Strahlenwelt übertragen, und sie haben schöne My¬
then ersonnen, ihr mildes Dämmern zu erklären. Ich wandelte
eittsam in kühler Oktobernacht und deutete mir die Gebilde uach
meinem Sinn um, weil mir die alten Mythen nicht mehr genügten -- da ent¬
deckte ich ein neues Sternbild im Norden des Himmelsraumes. Ihr kennt
wohl alle den großen Bären und den kleinen, den Orion und die Milchstraße --


Der kleine Drache

chaischen Kunst auf keinem andern Punkte Griechenlands so genau verfolgen,
wie in Athen. Wir sehen, wie die ersten Arbeiten in Stein (Kalkstein) noch
in einer ängstlichen Nachahmung der lange geübten Holzschnitzkunst befangen
sind, und wie erst unter der Herrschaft des Peisistratos fremde, ionische Künstler
den Athenern die Technik der Arbeit in Marmor offenbart haben. Mit der
neuen Technik sind aber auch stilistische Eigentümlichkeiten der ionischen Kunst
in Athen eingedrungen, auch äginetische und andre fremde Künstler haben in
Athen gearbeitet, und die attischen Künstler mußten das ihnen fremdartige
und nicht zusagende erst wieder ausscheiden. In diesem Ringen der attischen
Schlichtheit, Frische und Anmut gegen fremde Einflüsse entwickelte sich allmäh¬
lich jene „attische Werkstatt," deren einzelne Meister immer deutlicher hervor¬
treten: Antenor, Kritios und Nesiotes, Myron und Kalcunis. Die Thätigkeit
Myrons berührt sich bereits mit der des Phidias, und die jüngsten von den
im Bauschule des Parthenon gefundnen Bildwerken führen unmittelbar zu den
Skulpturen des Parthenon selbst.

Die neue Auflage von Overbecks Geschichte der griechischen Plastik ist
aber nicht nur im Inhalt gründlich umgearbeitet und bereichert worden, auch
der äußere Schmuck des Werkes ist reicher und schöner, als in den frühern
Auflagen. Eine ganze Reihe von neuen, trefflichen Abbildungen führt dem
Leser die neuen Funde vor Augen. Der zweite Halbhart des ersten Bandes
soll noch in diesem Jahre, der zweite Band im Laufe des nächsten Jahres er¬
scheinen. Das Buch wird dann wieder ein treues Bild unsers Wissens auf
dem Gebiete der Archäologie geben. Sicherlich wird es sich auch die Gunst
der Gebildeten erhalten; auf dem deutschen Büchermarkte hat es keinen Neben¬
buhler. Wir wünschen, daß der Verfasser sein Werk in rüstiger Kraft und
Gesundheit vollenden möge!




Der kleine Drache

om Nachthimmel leuchten in stiller Klarheit viel tausend Sterne
herab; die Menschen nennen sie mit irdischen Bildern, von Göt¬
tern und Dämonen, von Ungetümen und zahmern Tieren auf
die reine Strahlenwelt übertragen, und sie haben schöne My¬
then ersonnen, ihr mildes Dämmern zu erklären. Ich wandelte
eittsam in kühler Oktobernacht und deutete mir die Gebilde uach
meinem Sinn um, weil mir die alten Mythen nicht mehr genügten — da ent¬
deckte ich ein neues Sternbild im Norden des Himmelsraumes. Ihr kennt
wohl alle den großen Bären und den kleinen, den Orion und die Milchstraße —


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[0240] Der kleine Drache chaischen Kunst auf keinem andern Punkte Griechenlands so genau verfolgen, wie in Athen. Wir sehen, wie die ersten Arbeiten in Stein (Kalkstein) noch in einer ängstlichen Nachahmung der lange geübten Holzschnitzkunst befangen sind, und wie erst unter der Herrschaft des Peisistratos fremde, ionische Künstler den Athenern die Technik der Arbeit in Marmor offenbart haben. Mit der neuen Technik sind aber auch stilistische Eigentümlichkeiten der ionischen Kunst in Athen eingedrungen, auch äginetische und andre fremde Künstler haben in Athen gearbeitet, und die attischen Künstler mußten das ihnen fremdartige und nicht zusagende erst wieder ausscheiden. In diesem Ringen der attischen Schlichtheit, Frische und Anmut gegen fremde Einflüsse entwickelte sich allmäh¬ lich jene „attische Werkstatt," deren einzelne Meister immer deutlicher hervor¬ treten: Antenor, Kritios und Nesiotes, Myron und Kalcunis. Die Thätigkeit Myrons berührt sich bereits mit der des Phidias, und die jüngsten von den im Bauschule des Parthenon gefundnen Bildwerken führen unmittelbar zu den Skulpturen des Parthenon selbst. Die neue Auflage von Overbecks Geschichte der griechischen Plastik ist aber nicht nur im Inhalt gründlich umgearbeitet und bereichert worden, auch der äußere Schmuck des Werkes ist reicher und schöner, als in den frühern Auflagen. Eine ganze Reihe von neuen, trefflichen Abbildungen führt dem Leser die neuen Funde vor Augen. Der zweite Halbhart des ersten Bandes soll noch in diesem Jahre, der zweite Band im Laufe des nächsten Jahres er¬ scheinen. Das Buch wird dann wieder ein treues Bild unsers Wissens auf dem Gebiete der Archäologie geben. Sicherlich wird es sich auch die Gunst der Gebildeten erhalten; auf dem deutschen Büchermarkte hat es keinen Neben¬ buhler. Wir wünschen, daß der Verfasser sein Werk in rüstiger Kraft und Gesundheit vollenden möge! Der kleine Drache om Nachthimmel leuchten in stiller Klarheit viel tausend Sterne herab; die Menschen nennen sie mit irdischen Bildern, von Göt¬ tern und Dämonen, von Ungetümen und zahmern Tieren auf die reine Strahlenwelt übertragen, und sie haben schöne My¬ then ersonnen, ihr mildes Dämmern zu erklären. Ich wandelte eittsam in kühler Oktobernacht und deutete mir die Gebilde uach meinem Sinn um, weil mir die alten Mythen nicht mehr genügten — da ent¬ deckte ich ein neues Sternbild im Norden des Himmelsraumes. Ihr kennt wohl alle den großen Bären und den kleinen, den Orion und die Milchstraße —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/240>, abgerufen am 27.04.2024.