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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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den Kultus der Person auf die Spitze trieb. In vielen andern Fällen fesselte
den Beschauer doch der eigentliche Kunstwert der allsgestellten Kunstwerke,
wie z. B. in der Wolterkoje, die das berühmte Makartsche Bild der großen
Tragödin in der Rolle der Kleopatra und ähnliches zeigte. Aber das "Grillen¬
zimmer" zeigte unzählige Bändchen und Bänder von gespendeten Kränzen,
jedoch kein Kunstwerk -- und solchen Opferstätten der Eitelkeit begegnete
man öfter.

Aber es war vielleicht gut, daß dem so war. Denn so wurde doch durch
die strengste Konsequenz im Reliquienknltns sein Wert oder Unwert drastisch
offenbar. Wir leben in einer Zeit, die sich von dem übertriebnen Historismus
des Jahrhunderts losringen möchte zu einer eignen, unmittelbaren Welt¬
anschauung. In der Wiener Ausstellung hat dieser Historismus seine letzte
Flamme aufflackern lassen, er hat einen monumentalen Ausdruck gefunden,
um, wenigstens in dieser Form, sich Wohl nicht "lehr zu wiederholen.




Das Normale
Line Vision

r trug einen langen, schmutzigweißer Burnus, einen Weißen
Shawl, dessen Enden ihm über den gekrümmten Rücken herab¬
hingen, turbanartig um den Kopf geschlungen und einen langen
Stab in der Hand.
Ich war ihm bereits dnrch mehrere Straßen gefolgt. Wenn
mich der eisgraue, exotische Mann, an sich schon lebhaft interessirte, wurde
mein Erstaunen, ja ich möchte sagen eine Art abergläubischen Entsetzens be¬
sonders noch dadurch erregt, daß man, trotz des starken Verkehrs auf den
Straßen, dieser selbst für eine Weltstadt ungewöhnlichen Erscheinung nicht die
Kernigste Beachtung schenkte. Langsamer Schrittes wankte der Fremdling durch
die geschäftig auf- und niederwogende Menge, er wurde weder gestoßen, noch
gedrängt, noch aufgehalten, kein Wächter der öffentlichen Ordnung schnäuzte
ihn an, daß er seinen Weg beschleunigen und nicht "die Passage behindern"
solle; niemand kümmerte sich um ihn. Und jetzt -- sehe ich recht? Ein
älterer Herr, der die (sonst nur jungen Leuten anhaftende) Ungezogenheit hatte,
seinen Stock wagerecht unter dem Arme zu tragen, bohrte ihn durch und dnrch.
Ich Wollte zuspringen, um den so schrecklich verletzten der nächsten Sanitüts-
wache zuzuführen, aber - der Alte schlich weiter, als ob nichts geschehen
wäre, und auch der "Mörder" ging seines Weges, ohne sich auch nur um¬
zusehen.


den Kultus der Person auf die Spitze trieb. In vielen andern Fällen fesselte
den Beschauer doch der eigentliche Kunstwert der allsgestellten Kunstwerke,
wie z. B. in der Wolterkoje, die das berühmte Makartsche Bild der großen
Tragödin in der Rolle der Kleopatra und ähnliches zeigte. Aber das „Grillen¬
zimmer" zeigte unzählige Bändchen und Bänder von gespendeten Kränzen,
jedoch kein Kunstwerk — und solchen Opferstätten der Eitelkeit begegnete
man öfter.

Aber es war vielleicht gut, daß dem so war. Denn so wurde doch durch
die strengste Konsequenz im Reliquienknltns sein Wert oder Unwert drastisch
offenbar. Wir leben in einer Zeit, die sich von dem übertriebnen Historismus
des Jahrhunderts losringen möchte zu einer eignen, unmittelbaren Welt¬
anschauung. In der Wiener Ausstellung hat dieser Historismus seine letzte
Flamme aufflackern lassen, er hat einen monumentalen Ausdruck gefunden,
um, wenigstens in dieser Form, sich Wohl nicht »lehr zu wiederholen.




Das Normale
Line Vision

r trug einen langen, schmutzigweißer Burnus, einen Weißen
Shawl, dessen Enden ihm über den gekrümmten Rücken herab¬
hingen, turbanartig um den Kopf geschlungen und einen langen
Stab in der Hand.
Ich war ihm bereits dnrch mehrere Straßen gefolgt. Wenn
mich der eisgraue, exotische Mann, an sich schon lebhaft interessirte, wurde
mein Erstaunen, ja ich möchte sagen eine Art abergläubischen Entsetzens be¬
sonders noch dadurch erregt, daß man, trotz des starken Verkehrs auf den
Straßen, dieser selbst für eine Weltstadt ungewöhnlichen Erscheinung nicht die
Kernigste Beachtung schenkte. Langsamer Schrittes wankte der Fremdling durch
die geschäftig auf- und niederwogende Menge, er wurde weder gestoßen, noch
gedrängt, noch aufgehalten, kein Wächter der öffentlichen Ordnung schnäuzte
ihn an, daß er seinen Weg beschleunigen und nicht „die Passage behindern"
solle; niemand kümmerte sich um ihn. Und jetzt — sehe ich recht? Ein
älterer Herr, der die (sonst nur jungen Leuten anhaftende) Ungezogenheit hatte,
seinen Stock wagerecht unter dem Arme zu tragen, bohrte ihn durch und dnrch.
Ich Wollte zuspringen, um den so schrecklich verletzten der nächsten Sanitüts-
wache zuzuführen, aber - der Alte schlich weiter, als ob nichts geschehen
wäre, und auch der „Mörder" ging seines Weges, ohne sich auch nur um¬
zusehen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/277>, abgerufen am 27.04.2024.