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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und die Brüder Grimm

der Wohnungsfrage nicht allzu scharf tadeln, sondern sich klar machen, daß
wir auch hierin nur gefehlt haben, weil wir Menschen sind, und weil Staaten
menschliche und menschlicher Einseitigkeit unterworfene Einrichtungen sind,


L. Albrecht


Goethe und die Brüder Grimm

le viele Bucher, gleich dem vor kurzem veröffentlichten über
Goethe und die Brüder Grimm von Reinhold Steig
(Berlin, Wilhelm Hertz, 1892), binnen heute und einem Jahr¬
zehnt noch möglich sein werden, mögen sich die fragen, die ihr
Leben und Wirken auf die Goethewissenschaft gestellt haben. Mit
der Ausbeutung des Goethe-Schillerarchivs, mit der rüstigen Erschließung auch
der letzten seither übersehenen oder übergangenen Quellen hält die Bücherver-
mehruug gleichen Schritt, und man sollte meinen, daß in absehbarer Zeit
schlechthin alles veröffentlicht sein müsse, was überhaupt noch vorhanden ist.
Freilich bleiben außerordentliche Glücksfunde noch immer möglich. Der Verfasser
dieser Zeilen kannte einen jüngern Gelehrten, dessen großer Traum es war, durch
die Veröffentlichung von Goethes Frankfurter Abschiedsbrief an Friederike
Brion und jener Antwort der Pfarrerstochter, die dein jugendlichen Dichter
das Herz zerriß, unsterblich zu werden. Man mochte hundertmal auf das Be¬
kenntnis in den Annalen hinweisen, daß Goethe "aus entschiedner Abneigung
gegen Veröffentlichung des stillen Gangs freundschaftlicher Mitteilung" alle
an ihn gerichteten ältern Briefe verbrannt habe, der Brave klammerte sich an
die dort gedruckte Angabe "alle Briefe seit 1772" und glaubte fest, daß Goethes
wie Friederikes Brief aus dem Herbst 1771 auffindbar sein müßten. Ähnliche
Visionen mögen manchen jungen Goetheforscher umgaukeln. Die Mehrzahl be¬
gnügt sich aber doch mit den noch reichlich vorhandnen Zeugnissen späterer Lebens¬
tage und Lebensbeziehungen des Einzigen. Hierher gehört denn auch Steigs Buch
über die Verbindung der Brüder Jakob, Wilhelm und Ludwig Grimm mit dem
Dichterfürsten, über den Einfluß, den Goethes Genius, Erscheinung und Lebens¬
arbeit auf Jakob und Wilhelm Grimm geübt hat. Wird auch die Erzählung
der Begegnungen und die Darstellung und Abwägung der geistigen Einwir¬
kungen Goethes auf die Grimm und der jungen Gelehrten auf den soviel
ältern Dichter hie und da etwas breitspurig, und muß man über die von
Steig beliebte Apologie der Erfindungen Bettinas (Goethes Briefwechsel mit
einem Kinde) den Kopf schütteln, so wird doch das Buch allen willkommen


Goethe und die Brüder Grimm

der Wohnungsfrage nicht allzu scharf tadeln, sondern sich klar machen, daß
wir auch hierin nur gefehlt haben, weil wir Menschen sind, und weil Staaten
menschliche und menschlicher Einseitigkeit unterworfene Einrichtungen sind,


L. Albrecht


Goethe und die Brüder Grimm

le viele Bucher, gleich dem vor kurzem veröffentlichten über
Goethe und die Brüder Grimm von Reinhold Steig
(Berlin, Wilhelm Hertz, 1892), binnen heute und einem Jahr¬
zehnt noch möglich sein werden, mögen sich die fragen, die ihr
Leben und Wirken auf die Goethewissenschaft gestellt haben. Mit
der Ausbeutung des Goethe-Schillerarchivs, mit der rüstigen Erschließung auch
der letzten seither übersehenen oder übergangenen Quellen hält die Bücherver-
mehruug gleichen Schritt, und man sollte meinen, daß in absehbarer Zeit
schlechthin alles veröffentlicht sein müsse, was überhaupt noch vorhanden ist.
Freilich bleiben außerordentliche Glücksfunde noch immer möglich. Der Verfasser
dieser Zeilen kannte einen jüngern Gelehrten, dessen großer Traum es war, durch
die Veröffentlichung von Goethes Frankfurter Abschiedsbrief an Friederike
Brion und jener Antwort der Pfarrerstochter, die dein jugendlichen Dichter
das Herz zerriß, unsterblich zu werden. Man mochte hundertmal auf das Be¬
kenntnis in den Annalen hinweisen, daß Goethe „aus entschiedner Abneigung
gegen Veröffentlichung des stillen Gangs freundschaftlicher Mitteilung" alle
an ihn gerichteten ältern Briefe verbrannt habe, der Brave klammerte sich an
die dort gedruckte Angabe „alle Briefe seit 1772" und glaubte fest, daß Goethes
wie Friederikes Brief aus dem Herbst 1771 auffindbar sein müßten. Ähnliche
Visionen mögen manchen jungen Goetheforscher umgaukeln. Die Mehrzahl be¬
gnügt sich aber doch mit den noch reichlich vorhandnen Zeugnissen späterer Lebens¬
tage und Lebensbeziehungen des Einzigen. Hierher gehört denn auch Steigs Buch
über die Verbindung der Brüder Jakob, Wilhelm und Ludwig Grimm mit dem
Dichterfürsten, über den Einfluß, den Goethes Genius, Erscheinung und Lebens¬
arbeit auf Jakob und Wilhelm Grimm geübt hat. Wird auch die Erzählung
der Begegnungen und die Darstellung und Abwägung der geistigen Einwir¬
kungen Goethes auf die Grimm und der jungen Gelehrten auf den soviel
ältern Dichter hie und da etwas breitspurig, und muß man über die von
Steig beliebte Apologie der Erfindungen Bettinas (Goethes Briefwechsel mit
einem Kinde) den Kopf schütteln, so wird doch das Buch allen willkommen


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[0368] Goethe und die Brüder Grimm der Wohnungsfrage nicht allzu scharf tadeln, sondern sich klar machen, daß wir auch hierin nur gefehlt haben, weil wir Menschen sind, und weil Staaten menschliche und menschlicher Einseitigkeit unterworfene Einrichtungen sind, L. Albrecht Goethe und die Brüder Grimm le viele Bucher, gleich dem vor kurzem veröffentlichten über Goethe und die Brüder Grimm von Reinhold Steig (Berlin, Wilhelm Hertz, 1892), binnen heute und einem Jahr¬ zehnt noch möglich sein werden, mögen sich die fragen, die ihr Leben und Wirken auf die Goethewissenschaft gestellt haben. Mit der Ausbeutung des Goethe-Schillerarchivs, mit der rüstigen Erschließung auch der letzten seither übersehenen oder übergangenen Quellen hält die Bücherver- mehruug gleichen Schritt, und man sollte meinen, daß in absehbarer Zeit schlechthin alles veröffentlicht sein müsse, was überhaupt noch vorhanden ist. Freilich bleiben außerordentliche Glücksfunde noch immer möglich. Der Verfasser dieser Zeilen kannte einen jüngern Gelehrten, dessen großer Traum es war, durch die Veröffentlichung von Goethes Frankfurter Abschiedsbrief an Friederike Brion und jener Antwort der Pfarrerstochter, die dein jugendlichen Dichter das Herz zerriß, unsterblich zu werden. Man mochte hundertmal auf das Be¬ kenntnis in den Annalen hinweisen, daß Goethe „aus entschiedner Abneigung gegen Veröffentlichung des stillen Gangs freundschaftlicher Mitteilung" alle an ihn gerichteten ältern Briefe verbrannt habe, der Brave klammerte sich an die dort gedruckte Angabe „alle Briefe seit 1772" und glaubte fest, daß Goethes wie Friederikes Brief aus dem Herbst 1771 auffindbar sein müßten. Ähnliche Visionen mögen manchen jungen Goetheforscher umgaukeln. Die Mehrzahl be¬ gnügt sich aber doch mit den noch reichlich vorhandnen Zeugnissen späterer Lebens¬ tage und Lebensbeziehungen des Einzigen. Hierher gehört denn auch Steigs Buch über die Verbindung der Brüder Jakob, Wilhelm und Ludwig Grimm mit dem Dichterfürsten, über den Einfluß, den Goethes Genius, Erscheinung und Lebens¬ arbeit auf Jakob und Wilhelm Grimm geübt hat. Wird auch die Erzählung der Begegnungen und die Darstellung und Abwägung der geistigen Einwir¬ kungen Goethes auf die Grimm und der jungen Gelehrten auf den soviel ältern Dichter hie und da etwas breitspurig, und muß man über die von Steig beliebte Apologie der Erfindungen Bettinas (Goethes Briefwechsel mit einem Kinde) den Kopf schütteln, so wird doch das Buch allen willkommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/368>, abgerufen am 27.04.2024.