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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

Sitzungen ihm zugegangnc anonyme Kritiken über die Prozeßleitung öffentlich vor¬
trug, sie mit entrüsteten Anmerkungen versah, denen sich auch der Staatsanwalt
anzuschließen pflegte, und sie dann feierlich zu den Akten versenkte. Dieselbe Er¬
scheinung wiederholt sich jetzt bei einem soeben in Berlin verhandelten Sensations¬
prozeß. Wir haben den Abschnitt der Strafprozeßordnung über die Hnnptverhand-
lung vergebens daraufhin durchgelesen, an welcher Stelle der Verhandlung eigentlich
für derartige Monologe Raum gelassen sei. Urkunden sollen nach 243 verlesen
werden, soweit sie als Beweismittel dienen. Beweisthcma im einzelnen Straf¬
prozeß ist aber doch nicht, "wie weit ein großer Teil der Bevölkerung verhetzt
und korrumpirt sei," sondern ob der Angeklagte schuldig sei oder nicht. Beschränkt
sich die Justiz nicht streng ans diese eine Frage, so überschreitet sie ihre eigent¬
liche Aufgabe und wird leicht selbst den Schaden davon zu tragen haben. Nach
einer alten Regel kommt der Vorsitzende dann dem Ideal am nächsten, wenn über
seiue Meinung nicht nur von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten, sondern
auch von der Berechtigung oder der Verwerflichkeit gewisser politischer Tngesmei-
nnngen die Zuhörerschaft bis zuletzt im Dunkeln bleibt.




Litteratur

Unter den Büchern, die sich ans dem diesjährigen Weihnachtsmarkt eingefunden
haben, wird eine willkommne Erscheinung für weite Kreise die von den Gebrüdern
Paetel in Berlin heransgegebne Gesamtansgabe der Schriften von Marie von
Ebner-Eschenbach sein. Die Grenzboten haben die einzelnen Werke schon früher
gewürdigt, es genügt deshalb hier auf die neue Ausgabe hinzuweisen, die in guter
Ausstattung, mit großer, gut leserlicher Schrift in sechs Bänden zu sehr mäßigem
Preise (21 Mark) alles zusammenfaßt, was den Ruhm und die Beliebtheit der
ausgezeichneten Schriftstellerin geschaffen hat. Der erste Band enthält die Aphoris¬
men, Parabeln, Märchen und Gedichte; der zweite die Dorf- und Schlvßgeschichten
(den Kreisphhsikns n. f. w.j, der dritte und der vierte die übrigen Novellen , der
fünfte "Das Gemeindekind" und der sechste "Unsühnbar," die beiden größern Werke.
Möge diese Gesamtausgabe in recht vielen Hünsern Eingang finden.

Seine "Gesammelten Schriften" gleich von vornherein bei lebendigen: Leibe
schreiben zu können, dieses Glück wird wenig Sterblichen zu teil. Aber Heinrich
Seidel kann es! Voriges Jahr kam sein neunter Band, dies Jahr sein zehnter,
und nächstes Jahr wird sein elfter kommen; er schreibt mir "gesammelte Schriften."
Aber die ersten Bände kommen dann auch immer wieder hinterher gesprungen,
das zweite, das dritte -- das neunte Tausend, jedes Jahr neue Auflage" der
alten. Wir freuen uns darüber von Herzen. Der Erfolg ist erst nach und nach
gekommen, aber jetzt ist der liebenswürdige Erzähler in weiten Kreisen Hausfreund
geworden, nach Gebühr. Der neue, zehnte, Band enthält fünf in den letzten
Jahren geschriebn" Novellen und Skizzen -- es ist dankenswert, daß der Verleger


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Sitzungen ihm zugegangnc anonyme Kritiken über die Prozeßleitung öffentlich vor¬
trug, sie mit entrüsteten Anmerkungen versah, denen sich auch der Staatsanwalt
anzuschließen pflegte, und sie dann feierlich zu den Akten versenkte. Dieselbe Er¬
scheinung wiederholt sich jetzt bei einem soeben in Berlin verhandelten Sensations¬
prozeß. Wir haben den Abschnitt der Strafprozeßordnung über die Hnnptverhand-
lung vergebens daraufhin durchgelesen, an welcher Stelle der Verhandlung eigentlich
für derartige Monologe Raum gelassen sei. Urkunden sollen nach 243 verlesen
werden, soweit sie als Beweismittel dienen. Beweisthcma im einzelnen Straf¬
prozeß ist aber doch nicht, „wie weit ein großer Teil der Bevölkerung verhetzt
und korrumpirt sei," sondern ob der Angeklagte schuldig sei oder nicht. Beschränkt
sich die Justiz nicht streng ans diese eine Frage, so überschreitet sie ihre eigent¬
liche Aufgabe und wird leicht selbst den Schaden davon zu tragen haben. Nach
einer alten Regel kommt der Vorsitzende dann dem Ideal am nächsten, wenn über
seiue Meinung nicht nur von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten, sondern
auch von der Berechtigung oder der Verwerflichkeit gewisser politischer Tngesmei-
nnngen die Zuhörerschaft bis zuletzt im Dunkeln bleibt.




Litteratur

Unter den Büchern, die sich ans dem diesjährigen Weihnachtsmarkt eingefunden
haben, wird eine willkommne Erscheinung für weite Kreise die von den Gebrüdern
Paetel in Berlin heransgegebne Gesamtansgabe der Schriften von Marie von
Ebner-Eschenbach sein. Die Grenzboten haben die einzelnen Werke schon früher
gewürdigt, es genügt deshalb hier auf die neue Ausgabe hinzuweisen, die in guter
Ausstattung, mit großer, gut leserlicher Schrift in sechs Bänden zu sehr mäßigem
Preise (21 Mark) alles zusammenfaßt, was den Ruhm und die Beliebtheit der
ausgezeichneten Schriftstellerin geschaffen hat. Der erste Band enthält die Aphoris¬
men, Parabeln, Märchen und Gedichte; der zweite die Dorf- und Schlvßgeschichten
(den Kreisphhsikns n. f. w.j, der dritte und der vierte die übrigen Novellen , der
fünfte „Das Gemeindekind" und der sechste „Unsühnbar," die beiden größern Werke.
Möge diese Gesamtausgabe in recht vielen Hünsern Eingang finden.

Seine „Gesammelten Schriften" gleich von vornherein bei lebendigen: Leibe
schreiben zu können, dieses Glück wird wenig Sterblichen zu teil. Aber Heinrich
Seidel kann es! Voriges Jahr kam sein neunter Band, dies Jahr sein zehnter,
und nächstes Jahr wird sein elfter kommen; er schreibt mir „gesammelte Schriften."
Aber die ersten Bände kommen dann auch immer wieder hinterher gesprungen,
das zweite, das dritte — das neunte Tausend, jedes Jahr neue Auflage» der
alten. Wir freuen uns darüber von Herzen. Der Erfolg ist erst nach und nach
gekommen, aber jetzt ist der liebenswürdige Erzähler in weiten Kreisen Hausfreund
geworden, nach Gebühr. Der neue, zehnte, Band enthält fünf in den letzten
Jahren geschriebn« Novellen und Skizzen — es ist dankenswert, daß der Verleger


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[0557] Litteratur Sitzungen ihm zugegangnc anonyme Kritiken über die Prozeßleitung öffentlich vor¬ trug, sie mit entrüsteten Anmerkungen versah, denen sich auch der Staatsanwalt anzuschließen pflegte, und sie dann feierlich zu den Akten versenkte. Dieselbe Er¬ scheinung wiederholt sich jetzt bei einem soeben in Berlin verhandelten Sensations¬ prozeß. Wir haben den Abschnitt der Strafprozeßordnung über die Hnnptverhand- lung vergebens daraufhin durchgelesen, an welcher Stelle der Verhandlung eigentlich für derartige Monologe Raum gelassen sei. Urkunden sollen nach 243 verlesen werden, soweit sie als Beweismittel dienen. Beweisthcma im einzelnen Straf¬ prozeß ist aber doch nicht, „wie weit ein großer Teil der Bevölkerung verhetzt und korrumpirt sei," sondern ob der Angeklagte schuldig sei oder nicht. Beschränkt sich die Justiz nicht streng ans diese eine Frage, so überschreitet sie ihre eigent¬ liche Aufgabe und wird leicht selbst den Schaden davon zu tragen haben. Nach einer alten Regel kommt der Vorsitzende dann dem Ideal am nächsten, wenn über seiue Meinung nicht nur von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten, sondern auch von der Berechtigung oder der Verwerflichkeit gewisser politischer Tngesmei- nnngen die Zuhörerschaft bis zuletzt im Dunkeln bleibt. Litteratur Unter den Büchern, die sich ans dem diesjährigen Weihnachtsmarkt eingefunden haben, wird eine willkommne Erscheinung für weite Kreise die von den Gebrüdern Paetel in Berlin heransgegebne Gesamtansgabe der Schriften von Marie von Ebner-Eschenbach sein. Die Grenzboten haben die einzelnen Werke schon früher gewürdigt, es genügt deshalb hier auf die neue Ausgabe hinzuweisen, die in guter Ausstattung, mit großer, gut leserlicher Schrift in sechs Bänden zu sehr mäßigem Preise (21 Mark) alles zusammenfaßt, was den Ruhm und die Beliebtheit der ausgezeichneten Schriftstellerin geschaffen hat. Der erste Band enthält die Aphoris¬ men, Parabeln, Märchen und Gedichte; der zweite die Dorf- und Schlvßgeschichten (den Kreisphhsikns n. f. w.j, der dritte und der vierte die übrigen Novellen , der fünfte „Das Gemeindekind" und der sechste „Unsühnbar," die beiden größern Werke. Möge diese Gesamtausgabe in recht vielen Hünsern Eingang finden. Seine „Gesammelten Schriften" gleich von vornherein bei lebendigen: Leibe schreiben zu können, dieses Glück wird wenig Sterblichen zu teil. Aber Heinrich Seidel kann es! Voriges Jahr kam sein neunter Band, dies Jahr sein zehnter, und nächstes Jahr wird sein elfter kommen; er schreibt mir „gesammelte Schriften." Aber die ersten Bände kommen dann auch immer wieder hinterher gesprungen, das zweite, das dritte — das neunte Tausend, jedes Jahr neue Auflage» der alten. Wir freuen uns darüber von Herzen. Der Erfolg ist erst nach und nach gekommen, aber jetzt ist der liebenswürdige Erzähler in weiten Kreisen Hausfreund geworden, nach Gebühr. Der neue, zehnte, Band enthält fünf in den letzten Jahren geschriebn« Novellen und Skizzen — es ist dankenswert, daß der Verleger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/557>, abgerufen am 27.04.2024.