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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Lin Vermächtnis Lenaus an die Deutsche"

Lehrer nicht leicht, in einen Boden, der von der Schlingpflanze angeblicher
"religiöser" Interessen überwuchert ist, eine bessere Saat zu säen; und wer
weiß, ob nicht hie und da der Bock selbst zum Gärtner bestellt ist.

Ob sich die Schulverwnltungen um solche stille Agitation kümmern, ob
sie auch nur davon wissen, ist uns unbekannt; ebenso, ob sie vielleicht auch
diese papiernen Waffen zu dem Bollwerk rechnen, womit "Thron und Altar"
gegen die "Revolution" und den "sozialen Umsturz" zu schützen der Kleri¬
kalismus tagtäglich verspricht. Wir hoffen, daß sie die Sache der Bildung
und des Anstands nicht im Stich lassen werden. Den deutschen Eltern aber,
die für die ihr zugehörige Jugend das Bildungsideal verabscheuen, das uns
dieser Kalender in so leuchtender "Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit" vor
Augen stellt, rufen wir zu: Helft euch selbst, so wird euch auch die hohe
Obrigkeit helfen.




Gin Vermächtnis Lenaus an die Deutschen

as Vermächtnis eines fast vor einem halben Jahrhundert dcchin-
geschiednen Dichters an unsre Nation mit dem Hinweis auf ihre
hohe, weltumgestaltcnde Aufgabe für die Zukunft kann wohl von
der Nation eine Zeit lang übersehen werden, wenn es ein ano¬
nymes Vermächtnis war, sollte aber doch eigentlich von den
Führern der Litteratur, die gern alle litterargeschichtlichen Einzelheiten auf¬
stöbern und hervorheben, nicht so ganz übersehen werden, wie es bis jetzt der
Fall gewesen ist.

Daß sich Lenau ähnlich, wie Byron nach Griechenland ging, nach der
neuen Welt wandte, um dem in eine Sackgasse zwischen Anarchie, Absolutis¬
mus und Hierarchie geratenen Gedanken des wahren, freien Menschentums
einen Ausweg zu eröffnen, davon ist außer den paar dürftigen Zeilen im
Konversationslexikon (1832 Reise nach Amerika, Ankauf von Urwald) oder
den spärlichen und kurzen Lebensbeschreibungen des unglücklichen Dichters, die
diese Reise nur flüchtig erwähnen, bis jetzt kaum jemand etwas bekannt ge¬
worden. Die Gartenlaube, die neulich eine sehr interessante und eingehende
Besprechung der Lebens- und Liebesschicksale des Dichters brachte, erwähnte
seine Reise nach Amerika, diesen bedeutungsvollsten Schritt seines Lebens, nur
mit wenigen Worten, die zeigten, daß der Verfasser von dem weltbewegenden
Gedanken, der dem Dichter dabei vorschwebte, und der sich daran anschloß,
wohl kaum eine Ahnung hat.


Lin Vermächtnis Lenaus an die Deutsche»

Lehrer nicht leicht, in einen Boden, der von der Schlingpflanze angeblicher
„religiöser" Interessen überwuchert ist, eine bessere Saat zu säen; und wer
weiß, ob nicht hie und da der Bock selbst zum Gärtner bestellt ist.

Ob sich die Schulverwnltungen um solche stille Agitation kümmern, ob
sie auch nur davon wissen, ist uns unbekannt; ebenso, ob sie vielleicht auch
diese papiernen Waffen zu dem Bollwerk rechnen, womit „Thron und Altar"
gegen die „Revolution" und den „sozialen Umsturz" zu schützen der Kleri¬
kalismus tagtäglich verspricht. Wir hoffen, daß sie die Sache der Bildung
und des Anstands nicht im Stich lassen werden. Den deutschen Eltern aber,
die für die ihr zugehörige Jugend das Bildungsideal verabscheuen, das uns
dieser Kalender in so leuchtender „Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit" vor
Augen stellt, rufen wir zu: Helft euch selbst, so wird euch auch die hohe
Obrigkeit helfen.




Gin Vermächtnis Lenaus an die Deutschen

as Vermächtnis eines fast vor einem halben Jahrhundert dcchin-
geschiednen Dichters an unsre Nation mit dem Hinweis auf ihre
hohe, weltumgestaltcnde Aufgabe für die Zukunft kann wohl von
der Nation eine Zeit lang übersehen werden, wenn es ein ano¬
nymes Vermächtnis war, sollte aber doch eigentlich von den
Führern der Litteratur, die gern alle litterargeschichtlichen Einzelheiten auf¬
stöbern und hervorheben, nicht so ganz übersehen werden, wie es bis jetzt der
Fall gewesen ist.

Daß sich Lenau ähnlich, wie Byron nach Griechenland ging, nach der
neuen Welt wandte, um dem in eine Sackgasse zwischen Anarchie, Absolutis¬
mus und Hierarchie geratenen Gedanken des wahren, freien Menschentums
einen Ausweg zu eröffnen, davon ist außer den paar dürftigen Zeilen im
Konversationslexikon (1832 Reise nach Amerika, Ankauf von Urwald) oder
den spärlichen und kurzen Lebensbeschreibungen des unglücklichen Dichters, die
diese Reise nur flüchtig erwähnen, bis jetzt kaum jemand etwas bekannt ge¬
worden. Die Gartenlaube, die neulich eine sehr interessante und eingehende
Besprechung der Lebens- und Liebesschicksale des Dichters brachte, erwähnte
seine Reise nach Amerika, diesen bedeutungsvollsten Schritt seines Lebens, nur
mit wenigen Worten, die zeigten, daß der Verfasser von dem weltbewegenden
Gedanken, der dem Dichter dabei vorschwebte, und der sich daran anschloß,
wohl kaum eine Ahnung hat.


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[0149] Lin Vermächtnis Lenaus an die Deutsche» Lehrer nicht leicht, in einen Boden, der von der Schlingpflanze angeblicher „religiöser" Interessen überwuchert ist, eine bessere Saat zu säen; und wer weiß, ob nicht hie und da der Bock selbst zum Gärtner bestellt ist. Ob sich die Schulverwnltungen um solche stille Agitation kümmern, ob sie auch nur davon wissen, ist uns unbekannt; ebenso, ob sie vielleicht auch diese papiernen Waffen zu dem Bollwerk rechnen, womit „Thron und Altar" gegen die „Revolution" und den „sozialen Umsturz" zu schützen der Kleri¬ kalismus tagtäglich verspricht. Wir hoffen, daß sie die Sache der Bildung und des Anstands nicht im Stich lassen werden. Den deutschen Eltern aber, die für die ihr zugehörige Jugend das Bildungsideal verabscheuen, das uns dieser Kalender in so leuchtender „Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit" vor Augen stellt, rufen wir zu: Helft euch selbst, so wird euch auch die hohe Obrigkeit helfen. Gin Vermächtnis Lenaus an die Deutschen as Vermächtnis eines fast vor einem halben Jahrhundert dcchin- geschiednen Dichters an unsre Nation mit dem Hinweis auf ihre hohe, weltumgestaltcnde Aufgabe für die Zukunft kann wohl von der Nation eine Zeit lang übersehen werden, wenn es ein ano¬ nymes Vermächtnis war, sollte aber doch eigentlich von den Führern der Litteratur, die gern alle litterargeschichtlichen Einzelheiten auf¬ stöbern und hervorheben, nicht so ganz übersehen werden, wie es bis jetzt der Fall gewesen ist. Daß sich Lenau ähnlich, wie Byron nach Griechenland ging, nach der neuen Welt wandte, um dem in eine Sackgasse zwischen Anarchie, Absolutis¬ mus und Hierarchie geratenen Gedanken des wahren, freien Menschentums einen Ausweg zu eröffnen, davon ist außer den paar dürftigen Zeilen im Konversationslexikon (1832 Reise nach Amerika, Ankauf von Urwald) oder den spärlichen und kurzen Lebensbeschreibungen des unglücklichen Dichters, die diese Reise nur flüchtig erwähnen, bis jetzt kaum jemand etwas bekannt ge¬ worden. Die Gartenlaube, die neulich eine sehr interessante und eingehende Besprechung der Lebens- und Liebesschicksale des Dichters brachte, erwähnte seine Reise nach Amerika, diesen bedeutungsvollsten Schritt seines Lebens, nur mit wenigen Worten, die zeigten, daß der Verfasser von dem weltbewegenden Gedanken, der dem Dichter dabei vorschwebte, und der sich daran anschloß, wohl kaum eine Ahnung hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/149>, abgerufen am 28.04.2024.