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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Ratholische Schnlkalender

Kalendermacher seinen "Studenten" in Gottes Namen sagen, wenn er durch¬
aus meint, daß das in einen Kalender gehöre. Aber dann darf er ihm die
Kehrseite nicht verschweigen, daß nämlich die Frage, inwieweit aus dem Vor¬
handensein ähnlicher Gedanken und selbst gleichlautender Worte und Redens¬
arten auf bewußte Entlehnung geschlossen werden darf, eine der heikelsten in
der kritischen Litteraturgeschichte ist; am wenigsten aber darf er ihm ver¬
schweigen, daß auch 319 und 340 und 499 ausländische Fetzen, aus denen
die Minna, der Nathan und die Emilia zusammengeflickt sein sollen (!), immer
noch keine Minna, keinen Nathan, keine Emilia ergeben, weil Fetzen kein Kleid
und tausend Einzelheiten kein Ganzes sind. Die Erkenntnis, wie wichtig, wie
entscheidend für das dichterische Schaffen die Thätigkeit der Komposition ist,
wird auf diese Weise dem Studenten geflissentlich versperrt. Dagegen hängt
der Kalender am Schluß noch einen Scheinbeweis von jämmerlicher Perfidie
an. Daß die bekannte ans dem theatralischen Nachlaß veröffentlichte Virginia¬
szene eine bloße Übersetzung aus einem ältern englischen Virginiastück von
Crisp ist, ist vor einigen Jahren zwar nicht von dem berühmten Herrn Pro-
fessor Albrecht, aber von Roethe in der Senffertschen Vierteljahrsschrift nach¬
gewiesen worden. Was thut nun Herr von Schaching? Er stellt den Anfang
der Szene in der Lessingschen Übersetzung und im Original neben einander
und bezeichnet das am Schlüsse als einen "Beleg von Lessings litterarischer
Kleptomanie." Daß die sogenannte Virginia Lessings nur aus dieser einen
Szene besteht, daß diese Szene von Lessing selber gar nicht veröffentlicht
worden ist, daß sie nur eine Vorstudie ist, daß Lessing später etwas ganz
andres daraus gemacht hat, von alledem erfährt der "Student" nichts. Ent¬
weder hat es der Kalendermacher selber nicht gewußt, dann ist er, wenn er
sich doch mit solchen Dingen beschäftigt, ein Tropf; oder er hat es gewußt
und verschweigt es, dann ist er ein Schurke.

Doch es sei genug des grausamen Spiels, das wir noch weiter fortsetzen
könnten, obwohl die ältern Jahrgänge eine viel geringere Ausbeute geben, der
häßliche Geist des Machwerks in den letzten Jahrgängen in sichtlicher Steige¬
rung erscheint. Warum wir aber, die wir doch besseres zu thun haben, uns
mit solchem Zeug abgeben? ganze Seiten unsrer Zeitschrift damit füllen? unsre
Leser damit behelligen? Darum, weil wir glauben, daß diese Machinationen
lange nicht so bekannt sind, als sie sein sollten, und daß man sich gegen un¬
bekannte Gefahren am schwersten schützen kann. Und eine Gefahr, eine schwere
Gefahr liegt hier vor; ja mehr als eine Gefahr, denn es ist schon viel Übles
daraus hervorgegangen. Man glaube nur nicht, die Schule sei imstande, durch
ihr stilles, ruhiges Wirken solche Einflüsse von selbst zu überwinden. Wie
viele Hunderte, ja Tausende lesen diese Dinge und verlassen die Schule, ohne
kaum jemals ein andres Wort über Goethe und Lessing zu hören! aber auch
wo das nicht der Fall ist, ist es selbst für einen geschickten und taktvollen


Ratholische Schnlkalender

Kalendermacher seinen „Studenten" in Gottes Namen sagen, wenn er durch¬
aus meint, daß das in einen Kalender gehöre. Aber dann darf er ihm die
Kehrseite nicht verschweigen, daß nämlich die Frage, inwieweit aus dem Vor¬
handensein ähnlicher Gedanken und selbst gleichlautender Worte und Redens¬
arten auf bewußte Entlehnung geschlossen werden darf, eine der heikelsten in
der kritischen Litteraturgeschichte ist; am wenigsten aber darf er ihm ver¬
schweigen, daß auch 319 und 340 und 499 ausländische Fetzen, aus denen
die Minna, der Nathan und die Emilia zusammengeflickt sein sollen (!), immer
noch keine Minna, keinen Nathan, keine Emilia ergeben, weil Fetzen kein Kleid
und tausend Einzelheiten kein Ganzes sind. Die Erkenntnis, wie wichtig, wie
entscheidend für das dichterische Schaffen die Thätigkeit der Komposition ist,
wird auf diese Weise dem Studenten geflissentlich versperrt. Dagegen hängt
der Kalender am Schluß noch einen Scheinbeweis von jämmerlicher Perfidie
an. Daß die bekannte ans dem theatralischen Nachlaß veröffentlichte Virginia¬
szene eine bloße Übersetzung aus einem ältern englischen Virginiastück von
Crisp ist, ist vor einigen Jahren zwar nicht von dem berühmten Herrn Pro-
fessor Albrecht, aber von Roethe in der Senffertschen Vierteljahrsschrift nach¬
gewiesen worden. Was thut nun Herr von Schaching? Er stellt den Anfang
der Szene in der Lessingschen Übersetzung und im Original neben einander
und bezeichnet das am Schlüsse als einen „Beleg von Lessings litterarischer
Kleptomanie." Daß die sogenannte Virginia Lessings nur aus dieser einen
Szene besteht, daß diese Szene von Lessing selber gar nicht veröffentlicht
worden ist, daß sie nur eine Vorstudie ist, daß Lessing später etwas ganz
andres daraus gemacht hat, von alledem erfährt der „Student" nichts. Ent¬
weder hat es der Kalendermacher selber nicht gewußt, dann ist er, wenn er
sich doch mit solchen Dingen beschäftigt, ein Tropf; oder er hat es gewußt
und verschweigt es, dann ist er ein Schurke.

Doch es sei genug des grausamen Spiels, das wir noch weiter fortsetzen
könnten, obwohl die ältern Jahrgänge eine viel geringere Ausbeute geben, der
häßliche Geist des Machwerks in den letzten Jahrgängen in sichtlicher Steige¬
rung erscheint. Warum wir aber, die wir doch besseres zu thun haben, uns
mit solchem Zeug abgeben? ganze Seiten unsrer Zeitschrift damit füllen? unsre
Leser damit behelligen? Darum, weil wir glauben, daß diese Machinationen
lange nicht so bekannt sind, als sie sein sollten, und daß man sich gegen un¬
bekannte Gefahren am schwersten schützen kann. Und eine Gefahr, eine schwere
Gefahr liegt hier vor; ja mehr als eine Gefahr, denn es ist schon viel Übles
daraus hervorgegangen. Man glaube nur nicht, die Schule sei imstande, durch
ihr stilles, ruhiges Wirken solche Einflüsse von selbst zu überwinden. Wie
viele Hunderte, ja Tausende lesen diese Dinge und verlassen die Schule, ohne
kaum jemals ein andres Wort über Goethe und Lessing zu hören! aber auch
wo das nicht der Fall ist, ist es selbst für einen geschickten und taktvollen


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[0148] Ratholische Schnlkalender Kalendermacher seinen „Studenten" in Gottes Namen sagen, wenn er durch¬ aus meint, daß das in einen Kalender gehöre. Aber dann darf er ihm die Kehrseite nicht verschweigen, daß nämlich die Frage, inwieweit aus dem Vor¬ handensein ähnlicher Gedanken und selbst gleichlautender Worte und Redens¬ arten auf bewußte Entlehnung geschlossen werden darf, eine der heikelsten in der kritischen Litteraturgeschichte ist; am wenigsten aber darf er ihm ver¬ schweigen, daß auch 319 und 340 und 499 ausländische Fetzen, aus denen die Minna, der Nathan und die Emilia zusammengeflickt sein sollen (!), immer noch keine Minna, keinen Nathan, keine Emilia ergeben, weil Fetzen kein Kleid und tausend Einzelheiten kein Ganzes sind. Die Erkenntnis, wie wichtig, wie entscheidend für das dichterische Schaffen die Thätigkeit der Komposition ist, wird auf diese Weise dem Studenten geflissentlich versperrt. Dagegen hängt der Kalender am Schluß noch einen Scheinbeweis von jämmerlicher Perfidie an. Daß die bekannte ans dem theatralischen Nachlaß veröffentlichte Virginia¬ szene eine bloße Übersetzung aus einem ältern englischen Virginiastück von Crisp ist, ist vor einigen Jahren zwar nicht von dem berühmten Herrn Pro- fessor Albrecht, aber von Roethe in der Senffertschen Vierteljahrsschrift nach¬ gewiesen worden. Was thut nun Herr von Schaching? Er stellt den Anfang der Szene in der Lessingschen Übersetzung und im Original neben einander und bezeichnet das am Schlüsse als einen „Beleg von Lessings litterarischer Kleptomanie." Daß die sogenannte Virginia Lessings nur aus dieser einen Szene besteht, daß diese Szene von Lessing selber gar nicht veröffentlicht worden ist, daß sie nur eine Vorstudie ist, daß Lessing später etwas ganz andres daraus gemacht hat, von alledem erfährt der „Student" nichts. Ent¬ weder hat es der Kalendermacher selber nicht gewußt, dann ist er, wenn er sich doch mit solchen Dingen beschäftigt, ein Tropf; oder er hat es gewußt und verschweigt es, dann ist er ein Schurke. Doch es sei genug des grausamen Spiels, das wir noch weiter fortsetzen könnten, obwohl die ältern Jahrgänge eine viel geringere Ausbeute geben, der häßliche Geist des Machwerks in den letzten Jahrgängen in sichtlicher Steige¬ rung erscheint. Warum wir aber, die wir doch besseres zu thun haben, uns mit solchem Zeug abgeben? ganze Seiten unsrer Zeitschrift damit füllen? unsre Leser damit behelligen? Darum, weil wir glauben, daß diese Machinationen lange nicht so bekannt sind, als sie sein sollten, und daß man sich gegen un¬ bekannte Gefahren am schwersten schützen kann. Und eine Gefahr, eine schwere Gefahr liegt hier vor; ja mehr als eine Gefahr, denn es ist schon viel Übles daraus hervorgegangen. Man glaube nur nicht, die Schule sei imstande, durch ihr stilles, ruhiges Wirken solche Einflüsse von selbst zu überwinden. Wie viele Hunderte, ja Tausende lesen diese Dinge und verlassen die Schule, ohne kaum jemals ein andres Wort über Goethe und Lessing zu hören! aber auch wo das nicht der Fall ist, ist es selbst für einen geschickten und taktvollen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/148>, abgerufen am 13.05.2024.