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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Frau Jenny Treidel

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e neueste Schöpfung (oder sollen wir sagen Arbeit?) des greisen
Theodor Fontäne: Frau Jenny Treibet, Roman aus der
Berliner Gesellschaft (Berlin, F. Fontane und Kompagnie) ist
nach jeder Richtung hin ein Buch, des Lesens, des Nachdenkens
und der Erörterung wert, ein Roman, der, was Schärfe des
Blicks, Fülle der Beobachtung, Reife des Urteils, Mannichfaltigkeit des ge¬
spiegelten Lebens anlangt, wohl ein Meisterwerk genannt zu werden verdient,
ein Lebensbild, dessen Treue nicht in Zweifel gezogen werden kann, wie es
auch um seine poetische Wirkung stehen mag. Der Roman hat vor den Elends-
schildernngen und den Genialitätsfratzen, die jetzt Mode sind, wenigstens das
voraus, daß er seine Gestalten und Situationen Lebenskreisen abgewinnt, ans
denen nach der Versicherung jüngster Ästhetiker nichts mehr zu holen ist, und
daß er schlicht und ruhig die wunderlichen Verhältnisse darlegt, aus denen
sich eine Art von Handlung und jedenfalls eine Reihe fesselnder Vorgänge
ergiebt.

Wenn mau will, kaun mau sagen, daß in diesem Berliner Gesellschafts¬
roman nichts weiter vorgehe als zwei Verlobungen einer Berliner Gymnasial¬
professorstochter, von denen die eine still erwürgt und begraben wird, während
die andre zur Heirat führt. Mit einem Diner, das die erste Verlobung vor¬
bereitet, beginnt, mit einem Hochzeitseffen im Englischen Hause schließt der
Roman, und dazwischen liegen nicht Mord noch Selbstmord, nicht Bankerott
noch Verbrechen, nicht gewaltsame noch unheimliche Szenen, sondern lauter
Alltäglichkeiten: ein gelehrtes Kränzchen im Hause des Gymnasialprofessors,
ein paar Unterredungen zwischen dein alten und dem jungen Ehepaar Treibet,
ein Ritt uach Treptow, eine Partie nach Halensee, einige Geständnisse der
Professorstochter an die alte Haushälterin ihres Vaters, eine Auseinander¬
setzung zwischen Mutter und Sohn, zwischen Schwiegermutter und Schwieger¬
tochter, zwischen der Titelheldin, ihrem Jugendfreunde und dessen Tochter, der
Besuch eines neuernannten Oberlehrers bei seinem Onkel, eine Auseinander¬
setzung eines Vetters mit seiner von ihm geliebten Cousine -- und doch ist
eine Fülle von Menschenschicksal, eine bunte Musterkarte gut angelegter und
durchgeführter Gestalten, eine außerordentliche Kenntnis des äußern und innern




Frau Jenny Treidel

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e neueste Schöpfung (oder sollen wir sagen Arbeit?) des greisen
Theodor Fontäne: Frau Jenny Treibet, Roman aus der
Berliner Gesellschaft (Berlin, F. Fontane und Kompagnie) ist
nach jeder Richtung hin ein Buch, des Lesens, des Nachdenkens
und der Erörterung wert, ein Roman, der, was Schärfe des
Blicks, Fülle der Beobachtung, Reife des Urteils, Mannichfaltigkeit des ge¬
spiegelten Lebens anlangt, wohl ein Meisterwerk genannt zu werden verdient,
ein Lebensbild, dessen Treue nicht in Zweifel gezogen werden kann, wie es
auch um seine poetische Wirkung stehen mag. Der Roman hat vor den Elends-
schildernngen und den Genialitätsfratzen, die jetzt Mode sind, wenigstens das
voraus, daß er seine Gestalten und Situationen Lebenskreisen abgewinnt, ans
denen nach der Versicherung jüngster Ästhetiker nichts mehr zu holen ist, und
daß er schlicht und ruhig die wunderlichen Verhältnisse darlegt, aus denen
sich eine Art von Handlung und jedenfalls eine Reihe fesselnder Vorgänge
ergiebt.

Wenn mau will, kaun mau sagen, daß in diesem Berliner Gesellschafts¬
roman nichts weiter vorgehe als zwei Verlobungen einer Berliner Gymnasial¬
professorstochter, von denen die eine still erwürgt und begraben wird, während
die andre zur Heirat führt. Mit einem Diner, das die erste Verlobung vor¬
bereitet, beginnt, mit einem Hochzeitseffen im Englischen Hause schließt der
Roman, und dazwischen liegen nicht Mord noch Selbstmord, nicht Bankerott
noch Verbrechen, nicht gewaltsame noch unheimliche Szenen, sondern lauter
Alltäglichkeiten: ein gelehrtes Kränzchen im Hause des Gymnasialprofessors,
ein paar Unterredungen zwischen dein alten und dem jungen Ehepaar Treibet,
ein Ritt uach Treptow, eine Partie nach Halensee, einige Geständnisse der
Professorstochter an die alte Haushälterin ihres Vaters, eine Auseinander¬
setzung zwischen Mutter und Sohn, zwischen Schwiegermutter und Schwieger¬
tochter, zwischen der Titelheldin, ihrem Jugendfreunde und dessen Tochter, der
Besuch eines neuernannten Oberlehrers bei seinem Onkel, eine Auseinander¬
setzung eines Vetters mit seiner von ihm geliebten Cousine — und doch ist
eine Fülle von Menschenschicksal, eine bunte Musterkarte gut angelegter und
durchgeführter Gestalten, eine außerordentliche Kenntnis des äußern und innern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/350>, abgerufen am 28.04.2024.