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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Frau Jenny Treidel

Lebens der Reichshauptstadt in allen gesellschaftlichen Schichten in den paar
hundert Seiten zusammengedrängt. Es würde nicht leicht sein, in dem Stil
der Überschriften altitalienischer Novellen eine Aufzählung des Hauptinhalts
zu geben.

Gleich im ersten Kapitel stellt sich die Titelheldin dar, Frau Kommerzien-
rat Jenny Treibet geborne Bürstenbinder, die nnr in die Ndlerstraße, wo der
Materialwarenladen ihres Vaters gelegen hat, zurückkehrt, um Fraulein
Corinna Schmidt, die Tochter ihres alten Anbeters Professor Wilibald Schmidt,
zu einem Diner in der Villa Treibe! einzuladen und bei dieser Gelegenheit
kundzugeben, daß sie im Gegensatz zu der heutigen jungen Welt noch immer
den Sinn für das Ideale bewahrt habe. ,,Wenn mir nicht der Himmel, dein
ich dafür danke, das Herz für das Poetische gegeben hätte, was, wenn es
mal in einem lebt, nicht wieder auszurotten ist, so hätte ich nichts gelernt
und wüßte nichts. Aber, Gott sei Dank, ich habe mich an Gedichten heran¬
gebildet, und wenn man viele davon auswendig weiß, so weiß man doch
manches. Und daß es so ist, sieh, das verdanke ich nächst Gott, der es in
meine Seele pflanzte, deinem Vater. Der hat das Blümlein groß gezogen,
das sonst drüben in dem Ladengeschäft unter all den prosaischen Menschen
verkümmert wäre." Sie deklamirt: "Ach, meine liebe Corinna, glaube mir,
kleine Verhältnisse, das ist das, was allein glücklich macht." Aber sie sitzt
breit und fest in ihrer Villa zwischen der Köpnicker Straße und der Spree
und kann es nicht verwinden, daß ihr Gatte bei der Anlage des Hanfes nicht
für eiuen Nebeneingang gesorgt hat "für Küchenjungen und derart Leute," sie
thront bei ihren vortrefflichen Diners nicht nur im Brokatkleide und mit
Diamantohrringen, sondern auch mit aller Sicherheit und Liebenswürdigkeit
einer gebornen Millionürin. Sie läßt sich beim Kaffee zum Vortrag ihrer
Lieder auffordern und singt mit dünner Stimme und sentimentalen Ausdruck
ein Lied, ihr Lied, das Wilibald Schmidt vor dreißig und mehr Jahren an
sie gedichtet hat:


Geben, nehmen, nehmen, geben,
Und dein Haar umspielt der Wind,
Ach, nur das, nur das ist Leben,
Wo sich Herz zum Herzen sind't!

Sie empört sich über die cmmaßliche Tugend und Reinlichkeit ihrer Hamburger
Schwiegertochter, sie betrübt sich über die mangelnde Genialität ihrer Söhne,
aber alles, alles ist Schein und Phrase. Sie schmeichelt der anmutigen und
klugen Corinna Schmidt und täuscht diese zwar nicht vollständig über ihren
Charakter, aber flößt ihr doch den Mut zu der Erwartung ein, sie, die senti¬
mentale Kommerzienrätin, zur Schwiegermutter erobern zu können. Denn
Fräulein Corinna Schmidt ist zwar von Haus aus eine prächtige Natur, nach
dem frühen Verlust der Mutter ueben einem allzu zärtlichen Vater in zu


Frau Jenny Treidel

Lebens der Reichshauptstadt in allen gesellschaftlichen Schichten in den paar
hundert Seiten zusammengedrängt. Es würde nicht leicht sein, in dem Stil
der Überschriften altitalienischer Novellen eine Aufzählung des Hauptinhalts
zu geben.

Gleich im ersten Kapitel stellt sich die Titelheldin dar, Frau Kommerzien-
rat Jenny Treibet geborne Bürstenbinder, die nnr in die Ndlerstraße, wo der
Materialwarenladen ihres Vaters gelegen hat, zurückkehrt, um Fraulein
Corinna Schmidt, die Tochter ihres alten Anbeters Professor Wilibald Schmidt,
zu einem Diner in der Villa Treibe! einzuladen und bei dieser Gelegenheit
kundzugeben, daß sie im Gegensatz zu der heutigen jungen Welt noch immer
den Sinn für das Ideale bewahrt habe. ,,Wenn mir nicht der Himmel, dein
ich dafür danke, das Herz für das Poetische gegeben hätte, was, wenn es
mal in einem lebt, nicht wieder auszurotten ist, so hätte ich nichts gelernt
und wüßte nichts. Aber, Gott sei Dank, ich habe mich an Gedichten heran¬
gebildet, und wenn man viele davon auswendig weiß, so weiß man doch
manches. Und daß es so ist, sieh, das verdanke ich nächst Gott, der es in
meine Seele pflanzte, deinem Vater. Der hat das Blümlein groß gezogen,
das sonst drüben in dem Ladengeschäft unter all den prosaischen Menschen
verkümmert wäre." Sie deklamirt: „Ach, meine liebe Corinna, glaube mir,
kleine Verhältnisse, das ist das, was allein glücklich macht." Aber sie sitzt
breit und fest in ihrer Villa zwischen der Köpnicker Straße und der Spree
und kann es nicht verwinden, daß ihr Gatte bei der Anlage des Hanfes nicht
für eiuen Nebeneingang gesorgt hat „für Küchenjungen und derart Leute," sie
thront bei ihren vortrefflichen Diners nicht nur im Brokatkleide und mit
Diamantohrringen, sondern auch mit aller Sicherheit und Liebenswürdigkeit
einer gebornen Millionürin. Sie läßt sich beim Kaffee zum Vortrag ihrer
Lieder auffordern und singt mit dünner Stimme und sentimentalen Ausdruck
ein Lied, ihr Lied, das Wilibald Schmidt vor dreißig und mehr Jahren an
sie gedichtet hat:


Geben, nehmen, nehmen, geben,
Und dein Haar umspielt der Wind,
Ach, nur das, nur das ist Leben,
Wo sich Herz zum Herzen sind't!

Sie empört sich über die cmmaßliche Tugend und Reinlichkeit ihrer Hamburger
Schwiegertochter, sie betrübt sich über die mangelnde Genialität ihrer Söhne,
aber alles, alles ist Schein und Phrase. Sie schmeichelt der anmutigen und
klugen Corinna Schmidt und täuscht diese zwar nicht vollständig über ihren
Charakter, aber flößt ihr doch den Mut zu der Erwartung ein, sie, die senti¬
mentale Kommerzienrätin, zur Schwiegermutter erobern zu können. Denn
Fräulein Corinna Schmidt ist zwar von Haus aus eine prächtige Natur, nach
dem frühen Verlust der Mutter ueben einem allzu zärtlichen Vater in zu


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[0351] Frau Jenny Treidel Lebens der Reichshauptstadt in allen gesellschaftlichen Schichten in den paar hundert Seiten zusammengedrängt. Es würde nicht leicht sein, in dem Stil der Überschriften altitalienischer Novellen eine Aufzählung des Hauptinhalts zu geben. Gleich im ersten Kapitel stellt sich die Titelheldin dar, Frau Kommerzien- rat Jenny Treibet geborne Bürstenbinder, die nnr in die Ndlerstraße, wo der Materialwarenladen ihres Vaters gelegen hat, zurückkehrt, um Fraulein Corinna Schmidt, die Tochter ihres alten Anbeters Professor Wilibald Schmidt, zu einem Diner in der Villa Treibe! einzuladen und bei dieser Gelegenheit kundzugeben, daß sie im Gegensatz zu der heutigen jungen Welt noch immer den Sinn für das Ideale bewahrt habe. ,,Wenn mir nicht der Himmel, dein ich dafür danke, das Herz für das Poetische gegeben hätte, was, wenn es mal in einem lebt, nicht wieder auszurotten ist, so hätte ich nichts gelernt und wüßte nichts. Aber, Gott sei Dank, ich habe mich an Gedichten heran¬ gebildet, und wenn man viele davon auswendig weiß, so weiß man doch manches. Und daß es so ist, sieh, das verdanke ich nächst Gott, der es in meine Seele pflanzte, deinem Vater. Der hat das Blümlein groß gezogen, das sonst drüben in dem Ladengeschäft unter all den prosaischen Menschen verkümmert wäre." Sie deklamirt: „Ach, meine liebe Corinna, glaube mir, kleine Verhältnisse, das ist das, was allein glücklich macht." Aber sie sitzt breit und fest in ihrer Villa zwischen der Köpnicker Straße und der Spree und kann es nicht verwinden, daß ihr Gatte bei der Anlage des Hanfes nicht für eiuen Nebeneingang gesorgt hat „für Küchenjungen und derart Leute," sie thront bei ihren vortrefflichen Diners nicht nur im Brokatkleide und mit Diamantohrringen, sondern auch mit aller Sicherheit und Liebenswürdigkeit einer gebornen Millionürin. Sie läßt sich beim Kaffee zum Vortrag ihrer Lieder auffordern und singt mit dünner Stimme und sentimentalen Ausdruck ein Lied, ihr Lied, das Wilibald Schmidt vor dreißig und mehr Jahren an sie gedichtet hat: Geben, nehmen, nehmen, geben, Und dein Haar umspielt der Wind, Ach, nur das, nur das ist Leben, Wo sich Herz zum Herzen sind't! Sie empört sich über die cmmaßliche Tugend und Reinlichkeit ihrer Hamburger Schwiegertochter, sie betrübt sich über die mangelnde Genialität ihrer Söhne, aber alles, alles ist Schein und Phrase. Sie schmeichelt der anmutigen und klugen Corinna Schmidt und täuscht diese zwar nicht vollständig über ihren Charakter, aber flößt ihr doch den Mut zu der Erwartung ein, sie, die senti¬ mentale Kommerzienrätin, zur Schwiegermutter erobern zu können. Denn Fräulein Corinna Schmidt ist zwar von Haus aus eine prächtige Natur, nach dem frühen Verlust der Mutter ueben einem allzu zärtlichen Vater in zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/351>, abgerufen am 11.05.2024.