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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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die volkstümlich wäre und nach menschlichen Begriffen die größte Gewähr für
Gerechtigkeit böte, sowie daß durch die Schöffen die Kenntnis vom Rechte in
weite Kreise des Volks getragen und dessen Rechisgefühl gekräftigt werden
würde.




Ein Kapitel von deutscher Lyrik
2

icht besser und behaglicher als die lyrische Dichtung im engern
Sinne ist heute die lyrisch-epische Poesie mit ihren mannichfachen
Untergattungen und Mischungen gestellt. Um die schulmeister¬
lichen Ästhetiker, die noch immer versichern, daß die große
Epopöe die einzige reine Form sei, braucht sich allerdings der
moderne erzählende Dichter nicht zu kümmern, und selbst die naturalistischen
Apostel, die nach und nach entdeckt haben, daß allein der moderne Roman
und die Novelle eine Art von Berechtigung besitzen, haben nicht hindern
können, daß noch in jüngster Zeit ein paar lyrisch-epische Gedichte von Robert
Hnmerling, I. V. Scheffel, Rudolf Baumbnch und leider auch von Julius
Wolff große Verbreitung gefunden haben. Schlimmer für die wirklichen Dichter
dieses Gebiets ist es schon, daß ihre Aussicht, vou der Masse der Dilettanten
und blöden Nachahmer unterschieden zu werden, noch geringer ist als bei den
Lyrikern im engern Sinne. Die gleichen Zeilen kritikloser Reklame oder ge¬
ringschätzigen Lobes werden in unsern Zeitungen an die besten Schöpfungen,
wie an die kläglichsten Stümpereien verspendet; "Ha, fürwahr, das ist etwas,
das reimt sich, oder reimt sich beinahe" soll Lord Bacon zu irgend einem
unglücklichen Versifex gesagt haben, und nach diesem Vorbilde scheint sich die
neueste Kritik poetischer Werke zu bilden. Für die Besprechung lyrisch-epischer
Dichtungen sind zwei oder drei Rezepte vorhanden, je nachdem klassisches Epos
"ut antikem Hintergrund und Neigung für Epopöe, zu Scheffelscher Beweg¬
lichkeit mit burschikosen Ton oder Hinneigung zu lyrischer Romantik " 1-r
Roquette und Banmbach vorausgesetzt wird. In jener von vornherein fest¬
stehenden Überzeugung, daß es sich bei allen diesen Erzählungen in Versen
niemals um eine dichterische Individualität, nirgends um einen selbständigen
und eigentümlichen Wert handle, liegt eine so tiefe Geringschätzung, daß eben
die gnuze naive Kindlichkeit oder Eitelkeit angehender Dichter dazu gehört,
um sich auch an solcher Anerkennung noch zu erquicken. Die Gedankenlosigkeit


die volkstümlich wäre und nach menschlichen Begriffen die größte Gewähr für
Gerechtigkeit böte, sowie daß durch die Schöffen die Kenntnis vom Rechte in
weite Kreise des Volks getragen und dessen Rechisgefühl gekräftigt werden
würde.




Ein Kapitel von deutscher Lyrik
2

icht besser und behaglicher als die lyrische Dichtung im engern
Sinne ist heute die lyrisch-epische Poesie mit ihren mannichfachen
Untergattungen und Mischungen gestellt. Um die schulmeister¬
lichen Ästhetiker, die noch immer versichern, daß die große
Epopöe die einzige reine Form sei, braucht sich allerdings der
moderne erzählende Dichter nicht zu kümmern, und selbst die naturalistischen
Apostel, die nach und nach entdeckt haben, daß allein der moderne Roman
und die Novelle eine Art von Berechtigung besitzen, haben nicht hindern
können, daß noch in jüngster Zeit ein paar lyrisch-epische Gedichte von Robert
Hnmerling, I. V. Scheffel, Rudolf Baumbnch und leider auch von Julius
Wolff große Verbreitung gefunden haben. Schlimmer für die wirklichen Dichter
dieses Gebiets ist es schon, daß ihre Aussicht, vou der Masse der Dilettanten
und blöden Nachahmer unterschieden zu werden, noch geringer ist als bei den
Lyrikern im engern Sinne. Die gleichen Zeilen kritikloser Reklame oder ge¬
ringschätzigen Lobes werden in unsern Zeitungen an die besten Schöpfungen,
wie an die kläglichsten Stümpereien verspendet; „Ha, fürwahr, das ist etwas,
das reimt sich, oder reimt sich beinahe" soll Lord Bacon zu irgend einem
unglücklichen Versifex gesagt haben, und nach diesem Vorbilde scheint sich die
neueste Kritik poetischer Werke zu bilden. Für die Besprechung lyrisch-epischer
Dichtungen sind zwei oder drei Rezepte vorhanden, je nachdem klassisches Epos
"ut antikem Hintergrund und Neigung für Epopöe, zu Scheffelscher Beweg¬
lichkeit mit burschikosen Ton oder Hinneigung zu lyrischer Romantik » 1-r
Roquette und Banmbach vorausgesetzt wird. In jener von vornherein fest¬
stehenden Überzeugung, daß es sich bei allen diesen Erzählungen in Versen
niemals um eine dichterische Individualität, nirgends um einen selbständigen
und eigentümlichen Wert handle, liegt eine so tiefe Geringschätzung, daß eben
die gnuze naive Kindlichkeit oder Eitelkeit angehender Dichter dazu gehört,
um sich auch an solcher Anerkennung noch zu erquicken. Die Gedankenlosigkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/489>, abgerufen am 27.04.2024.