Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Das junge Mädchen schauerte leicht zusammen, und Fräulein Ahlborn
lächelte leise. Seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie in dieses düstre Haus
gelockt habe, wo Sie in eine Gesellschaft von Toten gekommen sind. Denn die
Gräfin und ich sind auch tot; wenigstens für die Welt, und bald -- bald --

Weiter sprach sie nicht. Aber auf ihrem Gesicht lag die Freude einer
schönen Hoffnung.

Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Als die Fremde auf die Straße
trat, war die Luft von Blumenduft erfüllt, und in den Jasminbüschen des
Gartens begann die Nachtigall zu schlagen.

Einige Tage waren seitdem vergangen; da geschah etwas wunderbares
und allen Menschen sehr unerwartetes. Die alte' Gräfin war plötzlich ein¬
geschlafen, um nie wieder zu erwachen. Anfangs wollte niemand an die
Nachricht glauben, weil es allen ganz unnatürlich schien, daß die Gräfin
sterben könnte. Es war aber doch so.

Die Kinder trauerten sehr über diesen Todesfall. Sie sahen nach dem
Fenster hinauf, wo die Gräfin so oft gesessen hatte, und erzählten sich, wie
oft sie Kuchen von ihr bekommen hätten. Und da jeder behauptete, das größte
Stück bekommen zu haben, so prügelten sie sich schließlich und machten dabei
soviel Lärm, daß sich die alte Dame sehr gefreut haben würde, wenn sie es
hätte hören können. Aber sie lag mit gefalteten Händen und friedlichem Lächeln
auf einem weißen Atlaskissen, und ihre Enkelin, die Baronin, stand vor ihr
und betrachtete nachdenklich die feingeschnittenen, wachsbleichen Züge. Dann
sah sie zu dem Bilde Cvriscmdens empor, das unverhüllt zu Füßen des Lagers
hing und mit sonnigem Lächeln auf die Tote herabblickte.

Die Baronin hatte eine Ahnung von der Geschichte Corisandens; weil sie aber
nichts darüber zu sagen wußte, so begnügte sie sich damit, mehreremale zu
seufzen. Denn sie hatte Gefühl und sah es gern, daß andre Leute das merkten.
Als nun ihr Mann neben sie trat, erzählte sie ihm flüsternd, was sie von
der verstorbnen Corisande wußte, und wie die Großmama so sanft ein¬
geschlafen sei, weil sie eine junge Corisande gesehen, die ihr nicht gezürnt hätte.

Die Stimme der Baronin klang bewegt, denn auch in ihrer leeren Seele
war eine Saite aufgespannt, die erklingen konnte, wenn sie nur richtig berührt
wurde.

Der Baron aber lächelte griesgrämig und sagte, er glaube nicht an
Märchen. Daun ging er ins Eßzimmer, um Portwein zu trinken' und sich
zum letztenmale mit den übrigen Verwandten in die Pension der Gräfin zu
teilen. Er ahnte nicht, daß Leben und Tod beides Märchen find -- immer
dieselben Märchen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Hawaii.

Über die Lage in Hawaii gehen uns von andrer Seite noch fol¬
gende Mitteilungen zu: Um die Stellung der Vereinigten Staaten im Hawaiischen
Archipel zu verstehen, muß man sich an die frühern Verträge erinnern, die zu


Das junge Mädchen schauerte leicht zusammen, und Fräulein Ahlborn
lächelte leise. Seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie in dieses düstre Haus
gelockt habe, wo Sie in eine Gesellschaft von Toten gekommen sind. Denn die
Gräfin und ich sind auch tot; wenigstens für die Welt, und bald — bald —

Weiter sprach sie nicht. Aber auf ihrem Gesicht lag die Freude einer
schönen Hoffnung.

Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Als die Fremde auf die Straße
trat, war die Luft von Blumenduft erfüllt, und in den Jasminbüschen des
Gartens begann die Nachtigall zu schlagen.

Einige Tage waren seitdem vergangen; da geschah etwas wunderbares
und allen Menschen sehr unerwartetes. Die alte' Gräfin war plötzlich ein¬
geschlafen, um nie wieder zu erwachen. Anfangs wollte niemand an die
Nachricht glauben, weil es allen ganz unnatürlich schien, daß die Gräfin
sterben könnte. Es war aber doch so.

Die Kinder trauerten sehr über diesen Todesfall. Sie sahen nach dem
Fenster hinauf, wo die Gräfin so oft gesessen hatte, und erzählten sich, wie
oft sie Kuchen von ihr bekommen hätten. Und da jeder behauptete, das größte
Stück bekommen zu haben, so prügelten sie sich schließlich und machten dabei
soviel Lärm, daß sich die alte Dame sehr gefreut haben würde, wenn sie es
hätte hören können. Aber sie lag mit gefalteten Händen und friedlichem Lächeln
auf einem weißen Atlaskissen, und ihre Enkelin, die Baronin, stand vor ihr
und betrachtete nachdenklich die feingeschnittenen, wachsbleichen Züge. Dann
sah sie zu dem Bilde Cvriscmdens empor, das unverhüllt zu Füßen des Lagers
hing und mit sonnigem Lächeln auf die Tote herabblickte.

Die Baronin hatte eine Ahnung von der Geschichte Corisandens; weil sie aber
nichts darüber zu sagen wußte, so begnügte sie sich damit, mehreremale zu
seufzen. Denn sie hatte Gefühl und sah es gern, daß andre Leute das merkten.
Als nun ihr Mann neben sie trat, erzählte sie ihm flüsternd, was sie von
der verstorbnen Corisande wußte, und wie die Großmama so sanft ein¬
geschlafen sei, weil sie eine junge Corisande gesehen, die ihr nicht gezürnt hätte.

Die Stimme der Baronin klang bewegt, denn auch in ihrer leeren Seele
war eine Saite aufgespannt, die erklingen konnte, wenn sie nur richtig berührt
wurde.

Der Baron aber lächelte griesgrämig und sagte, er glaube nicht an
Märchen. Daun ging er ins Eßzimmer, um Portwein zu trinken' und sich
zum letztenmale mit den übrigen Verwandten in die Pension der Gräfin zu
teilen. Er ahnte nicht, daß Leben und Tod beides Märchen find — immer
dieselben Märchen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Hawaii.

Über die Lage in Hawaii gehen uns von andrer Seite noch fol¬
gende Mitteilungen zu: Um die Stellung der Vereinigten Staaten im Hawaiischen
Archipel zu verstehen, muß man sich an die frühern Verträge erinnern, die zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0509" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214301"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1755"> Das junge Mädchen schauerte leicht zusammen, und Fräulein Ahlborn<lb/>
lächelte leise. Seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie in dieses düstre Haus<lb/>
gelockt habe, wo Sie in eine Gesellschaft von Toten gekommen sind. Denn die<lb/>
Gräfin und ich sind auch tot; wenigstens für die Welt, und bald &#x2014; bald &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1756"> Weiter sprach sie nicht. Aber auf ihrem Gesicht lag die Freude einer<lb/>
schönen Hoffnung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1757"> Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Als die Fremde auf die Straße<lb/>
trat, war die Luft von Blumenduft erfüllt, und in den Jasminbüschen des<lb/>
Gartens begann die Nachtigall zu schlagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1758"> Einige Tage waren seitdem vergangen; da geschah etwas wunderbares<lb/>
und allen Menschen sehr unerwartetes. Die alte' Gräfin war plötzlich ein¬<lb/>
geschlafen, um nie wieder zu erwachen. Anfangs wollte niemand an die<lb/>
Nachricht glauben, weil es allen ganz unnatürlich schien, daß die Gräfin<lb/>
sterben könnte. Es war aber doch so.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1759"> Die Kinder trauerten sehr über diesen Todesfall. Sie sahen nach dem<lb/>
Fenster hinauf, wo die Gräfin so oft gesessen hatte, und erzählten sich, wie<lb/>
oft sie Kuchen von ihr bekommen hätten. Und da jeder behauptete, das größte<lb/>
Stück bekommen zu haben, so prügelten sie sich schließlich und machten dabei<lb/>
soviel Lärm, daß sich die alte Dame sehr gefreut haben würde, wenn sie es<lb/>
hätte hören können. Aber sie lag mit gefalteten Händen und friedlichem Lächeln<lb/>
auf einem weißen Atlaskissen, und ihre Enkelin, die Baronin, stand vor ihr<lb/>
und betrachtete nachdenklich die feingeschnittenen, wachsbleichen Züge. Dann<lb/>
sah sie zu dem Bilde Cvriscmdens empor, das unverhüllt zu Füßen des Lagers<lb/>
hing und mit sonnigem Lächeln auf die Tote herabblickte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1760"> Die Baronin hatte eine Ahnung von der Geschichte Corisandens; weil sie aber<lb/>
nichts darüber zu sagen wußte, so begnügte sie sich damit, mehreremale zu<lb/>
seufzen. Denn sie hatte Gefühl und sah es gern, daß andre Leute das merkten.<lb/>
Als nun ihr Mann neben sie trat, erzählte sie ihm flüsternd, was sie von<lb/>
der verstorbnen Corisande wußte, und wie die Großmama so sanft ein¬<lb/>
geschlafen sei, weil sie eine junge Corisande gesehen, die ihr nicht gezürnt hätte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1761"> Die Stimme der Baronin klang bewegt, denn auch in ihrer leeren Seele<lb/>
war eine Saite aufgespannt, die erklingen konnte, wenn sie nur richtig berührt<lb/>
wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1762"> Der Baron aber lächelte griesgrämig und sagte, er glaube nicht an<lb/>
Märchen. Daun ging er ins Eßzimmer, um Portwein zu trinken' und sich<lb/>
zum letztenmale mit den übrigen Verwandten in die Pension der Gräfin zu<lb/>
teilen. Er ahnte nicht, daß Leben und Tod beides Märchen find &#x2014; immer<lb/>
dieselben Märchen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Hawaii.</head>
            <p xml:id="ID_1763" next="#ID_1764"> Über die Lage in Hawaii gehen uns von andrer Seite noch fol¬<lb/>
gende Mitteilungen zu: Um die Stellung der Vereinigten Staaten im Hawaiischen<lb/>
Archipel zu verstehen, muß man sich an die frühern Verträge erinnern, die zu</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0509] Das junge Mädchen schauerte leicht zusammen, und Fräulein Ahlborn lächelte leise. Seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie in dieses düstre Haus gelockt habe, wo Sie in eine Gesellschaft von Toten gekommen sind. Denn die Gräfin und ich sind auch tot; wenigstens für die Welt, und bald — bald — Weiter sprach sie nicht. Aber auf ihrem Gesicht lag die Freude einer schönen Hoffnung. Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Als die Fremde auf die Straße trat, war die Luft von Blumenduft erfüllt, und in den Jasminbüschen des Gartens begann die Nachtigall zu schlagen. Einige Tage waren seitdem vergangen; da geschah etwas wunderbares und allen Menschen sehr unerwartetes. Die alte' Gräfin war plötzlich ein¬ geschlafen, um nie wieder zu erwachen. Anfangs wollte niemand an die Nachricht glauben, weil es allen ganz unnatürlich schien, daß die Gräfin sterben könnte. Es war aber doch so. Die Kinder trauerten sehr über diesen Todesfall. Sie sahen nach dem Fenster hinauf, wo die Gräfin so oft gesessen hatte, und erzählten sich, wie oft sie Kuchen von ihr bekommen hätten. Und da jeder behauptete, das größte Stück bekommen zu haben, so prügelten sie sich schließlich und machten dabei soviel Lärm, daß sich die alte Dame sehr gefreut haben würde, wenn sie es hätte hören können. Aber sie lag mit gefalteten Händen und friedlichem Lächeln auf einem weißen Atlaskissen, und ihre Enkelin, die Baronin, stand vor ihr und betrachtete nachdenklich die feingeschnittenen, wachsbleichen Züge. Dann sah sie zu dem Bilde Cvriscmdens empor, das unverhüllt zu Füßen des Lagers hing und mit sonnigem Lächeln auf die Tote herabblickte. Die Baronin hatte eine Ahnung von der Geschichte Corisandens; weil sie aber nichts darüber zu sagen wußte, so begnügte sie sich damit, mehreremale zu seufzen. Denn sie hatte Gefühl und sah es gern, daß andre Leute das merkten. Als nun ihr Mann neben sie trat, erzählte sie ihm flüsternd, was sie von der verstorbnen Corisande wußte, und wie die Großmama so sanft ein¬ geschlafen sei, weil sie eine junge Corisande gesehen, die ihr nicht gezürnt hätte. Die Stimme der Baronin klang bewegt, denn auch in ihrer leeren Seele war eine Saite aufgespannt, die erklingen konnte, wenn sie nur richtig berührt wurde. Der Baron aber lächelte griesgrämig und sagte, er glaube nicht an Märchen. Daun ging er ins Eßzimmer, um Portwein zu trinken' und sich zum letztenmale mit den übrigen Verwandten in die Pension der Gräfin zu teilen. Er ahnte nicht, daß Leben und Tod beides Märchen find — immer dieselben Märchen. Maßgebliches und Unmaßgebliches Hawaii. Über die Lage in Hawaii gehen uns von andrer Seite noch fol¬ gende Mitteilungen zu: Um die Stellung der Vereinigten Staaten im Hawaiischen Archipel zu verstehen, muß man sich an die frühern Verträge erinnern, die zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/509
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/509>, abgerufen am 28.04.2024.