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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Der Herr Reichskanzler hat an die Mitglieder des Bundesrath eine
Broschüre verteilen lassen, die einen sich in interessante Namenlosigkeit hüllenden
bekannten Berliner Richter zum Versasser hat, und in der, in amtlichen Auf¬
trage, als "einfacher Weg zum Ziel" ein verfehlter Vorschlag gemacht wird,
um das immer mächtiger hervortretende Verlangen nach Einführung der Be¬
rufung in Strafkammersachen durch einen motivirten Eröffnungsbeschluß zu
ersetzen, gegen dessen Gründe das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig sein
soll. Es ist sehr erfreulich, daß der Herr Reichskanzler anfängt, den Erzeug¬
nissen der juristischen Litteratur sein Augenmerk zuzuwenden. Darum wagen
wir es, seine Aufmerksamkeit auf eine kleine Schrift zu lenken, die, wenn anch
bereits einige Jahrzehnte alt, sich doch gerade in dem jetzigen Zeitpunkte zur
Verbreitung an alle Gesetzgebuugsmaschinisteu eignen würde. Es lebte einmal
ein Jurist, ein gewisser Savigny, der hat außer mehreren größern und
kleinern Gesetzbüchern auch eine Arbeit veröffentlicht, die den Namen führt
"Über den Beruf unsrer Zeit zur Gesetzgebung." Ein tieferes Studium der
in dieser Schrift enthaltnen Gedanken wird -- des sind wir gewiß -- wie
ein Eisnmschlag auf deu fiebernden Kopf unsrer gesetzgebuugswütigen Körper¬
schaften wirken. Allerdings würden dann einige Geheimrüte etwas weniger
zu thun, einige Volksboden etwas weniger zu reden, einige hungernde Privat¬
dozenten etwas weniger zu schreiben, einige verständige Praktiker etwas weniger
zu schimpfen haben. Aber das wäre doch gewiß kein Unglück.




(Lin Blick in die französische Volksschule
v L. Kannegießer on

in Völkerpsychologie zu studiren, muß man das nationale Lebe"
nicht bloß auf seinen Hohen in den Kreisen der Gebildeten, son¬
dern auch in seinen Niederungen bei den großen Massen auf¬
suchen. Das ist aber nicht leicht. Die Beobachtung des ein¬
zelnen reicht nicht weit und bleibt oft vom Zufall abhängig. Als
ein Mittel nun, die Einzelbeobachtung zu ergänzen und eine objektive Grund¬
lage der Beurteilung zu gewinnen, dürfte sich u. a. ein Blick in die Volks¬
schule des betreffenden Landes empfehlen, und zwar nicht sowohl in die amt¬
lichen "Programme" und Unterrichtsvorschriften, als vielmehr in ihr thatsäch¬
liches Leben, in ihren wirklichen Betrieb. Ein solcher Einblick lehrt zunächst,
welcher Art die Bildung ist, die bei den verschiednen Nationen dem "Volke"


Grenzboten I 1893 K6

Der Herr Reichskanzler hat an die Mitglieder des Bundesrath eine
Broschüre verteilen lassen, die einen sich in interessante Namenlosigkeit hüllenden
bekannten Berliner Richter zum Versasser hat, und in der, in amtlichen Auf¬
trage, als „einfacher Weg zum Ziel" ein verfehlter Vorschlag gemacht wird,
um das immer mächtiger hervortretende Verlangen nach Einführung der Be¬
rufung in Strafkammersachen durch einen motivirten Eröffnungsbeschluß zu
ersetzen, gegen dessen Gründe das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig sein
soll. Es ist sehr erfreulich, daß der Herr Reichskanzler anfängt, den Erzeug¬
nissen der juristischen Litteratur sein Augenmerk zuzuwenden. Darum wagen
wir es, seine Aufmerksamkeit auf eine kleine Schrift zu lenken, die, wenn anch
bereits einige Jahrzehnte alt, sich doch gerade in dem jetzigen Zeitpunkte zur
Verbreitung an alle Gesetzgebuugsmaschinisteu eignen würde. Es lebte einmal
ein Jurist, ein gewisser Savigny, der hat außer mehreren größern und
kleinern Gesetzbüchern auch eine Arbeit veröffentlicht, die den Namen führt
„Über den Beruf unsrer Zeit zur Gesetzgebung." Ein tieferes Studium der
in dieser Schrift enthaltnen Gedanken wird — des sind wir gewiß — wie
ein Eisnmschlag auf deu fiebernden Kopf unsrer gesetzgebuugswütigen Körper¬
schaften wirken. Allerdings würden dann einige Geheimrüte etwas weniger
zu thun, einige Volksboden etwas weniger zu reden, einige hungernde Privat¬
dozenten etwas weniger zu schreiben, einige verständige Praktiker etwas weniger
zu schimpfen haben. Aber das wäre doch gewiß kein Unglück.




(Lin Blick in die französische Volksschule
v L. Kannegießer on

in Völkerpsychologie zu studiren, muß man das nationale Lebe»
nicht bloß auf seinen Hohen in den Kreisen der Gebildeten, son¬
dern auch in seinen Niederungen bei den großen Massen auf¬
suchen. Das ist aber nicht leicht. Die Beobachtung des ein¬
zelnen reicht nicht weit und bleibt oft vom Zufall abhängig. Als
ein Mittel nun, die Einzelbeobachtung zu ergänzen und eine objektive Grund¬
lage der Beurteilung zu gewinnen, dürfte sich u. a. ein Blick in die Volks¬
schule des betreffenden Landes empfehlen, und zwar nicht sowohl in die amt¬
lichen „Programme" und Unterrichtsvorschriften, als vielmehr in ihr thatsäch¬
liches Leben, in ihren wirklichen Betrieb. Ein solcher Einblick lehrt zunächst,
welcher Art die Bildung ist, die bei den verschiednen Nationen dem „Volke"


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[0531] Der Herr Reichskanzler hat an die Mitglieder des Bundesrath eine Broschüre verteilen lassen, die einen sich in interessante Namenlosigkeit hüllenden bekannten Berliner Richter zum Versasser hat, und in der, in amtlichen Auf¬ trage, als „einfacher Weg zum Ziel" ein verfehlter Vorschlag gemacht wird, um das immer mächtiger hervortretende Verlangen nach Einführung der Be¬ rufung in Strafkammersachen durch einen motivirten Eröffnungsbeschluß zu ersetzen, gegen dessen Gründe das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig sein soll. Es ist sehr erfreulich, daß der Herr Reichskanzler anfängt, den Erzeug¬ nissen der juristischen Litteratur sein Augenmerk zuzuwenden. Darum wagen wir es, seine Aufmerksamkeit auf eine kleine Schrift zu lenken, die, wenn anch bereits einige Jahrzehnte alt, sich doch gerade in dem jetzigen Zeitpunkte zur Verbreitung an alle Gesetzgebuugsmaschinisteu eignen würde. Es lebte einmal ein Jurist, ein gewisser Savigny, der hat außer mehreren größern und kleinern Gesetzbüchern auch eine Arbeit veröffentlicht, die den Namen führt „Über den Beruf unsrer Zeit zur Gesetzgebung." Ein tieferes Studium der in dieser Schrift enthaltnen Gedanken wird — des sind wir gewiß — wie ein Eisnmschlag auf deu fiebernden Kopf unsrer gesetzgebuugswütigen Körper¬ schaften wirken. Allerdings würden dann einige Geheimrüte etwas weniger zu thun, einige Volksboden etwas weniger zu reden, einige hungernde Privat¬ dozenten etwas weniger zu schreiben, einige verständige Praktiker etwas weniger zu schimpfen haben. Aber das wäre doch gewiß kein Unglück. (Lin Blick in die französische Volksschule v L. Kannegießer on in Völkerpsychologie zu studiren, muß man das nationale Lebe» nicht bloß auf seinen Hohen in den Kreisen der Gebildeten, son¬ dern auch in seinen Niederungen bei den großen Massen auf¬ suchen. Das ist aber nicht leicht. Die Beobachtung des ein¬ zelnen reicht nicht weit und bleibt oft vom Zufall abhängig. Als ein Mittel nun, die Einzelbeobachtung zu ergänzen und eine objektive Grund¬ lage der Beurteilung zu gewinnen, dürfte sich u. a. ein Blick in die Volks¬ schule des betreffenden Landes empfehlen, und zwar nicht sowohl in die amt¬ lichen „Programme" und Unterrichtsvorschriften, als vielmehr in ihr thatsäch¬ liches Leben, in ihren wirklichen Betrieb. Ein solcher Einblick lehrt zunächst, welcher Art die Bildung ist, die bei den verschiednen Nationen dem „Volke" Grenzboten I 1893 K6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/531>, abgerufen am 28.04.2024.