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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Gin Kapitel von deutscher Lyrik
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ein Glockenspiel, das in dem brennenden Turm, dessen Zusam¬
mensturz droht, bei jedem Stundenschlage neu ertönt, mit der Uhr
in der Tasche des Toten, die weiterrückt und pickt, während
ihren Herrn keine Zeit mehr kümmert, mit den Blumen, die im
vergessenen Winkel eines Gartens fort und fort blühn, obschon
kein Weg mehr zu ihnen führt, und ihre Farbe und ihr Duft keinen Sinn
mehr laben: mit was allem ist die Lyrik unsrer Tage nicht schon verglichen
worden! Jedes Bild soll die hoffnungslose Lage des lyrischen Dichters von
hente ausdrücken, der mit Vergangenheit und Gegenwart zugleich kämpft, mit
einer Vergangenheit, die in langer glücklicher Muße die Perle" echter lyrischer
Dichtung bergehoch gehaust hat, mit einer Gegenwart, die in verzweifelter
Ichsucht und hartem Ringen um "Brot im allerweitsten Sinn" die Stimmung
nie oder doch nur selten und flüchtig finden kann, die zur Teilnahme am Liede,
um lyrischen Gedicht überhaupt unerläßlich ist. Zwar gewinnt es von Zeit
zu Zeit den Anschein, als ob der Höhepunkt der öden, unlyrischen Modernität
überschritten sei, hie und da regt sich eine Teilnahme, wenn nicht für den
seelischen Gehalt und die Phantasie wirklicher Dichter, doch für die Gedrängtheit
der gebundnen Form; der wüste Nomanplunder, mit dem wir überschwemmt
worden sind, übt einen Rückschlag auf die Neigungen der Leser, und der Rück¬
schlag kommt hie und da der Lyrik zu gute. Doch hat dieses scheinbare
Neuerwacheu der Empfänglichkeit für lyrische Poesie noch immer Gepräge und
Anstrich täuschender Vvrfrühlingstage. Die Sonne scheint hell, aber nicht
warm, es taut und friert in derselben Stunde, es verheißt mittags den Lenz
und wandelt sich abends wieder zum Winter. Der rechte Anteil, der von
lyrischer Kraft und Innigkeit, von lyrischer Kunst ergriffen und beglückt ist,
fehlt doch noch überall, in das Interesse der Gebildeten mischt sich zu viel
Kritik, mitten in dem lauten Ruf nach Natur merkt man, wie naturlos dieses
Geschlecht ist, das allenfalls noch von dem Sturm der Leidenschaft, aber nicht
von dem Hauch der Innigkeit, von der kräftigen Lust in sich befriedigten
Lebens berührt wird. Und so wird es wohl dabei bleiben, daß die Wirkung
aller modernen Lyrik vereinzelt und mehr zufällig, als sicher vorauszubestimmen


Gren,',l'oder 1 t6!)Z II


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Gin Kapitel von deutscher Lyrik
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ein Glockenspiel, das in dem brennenden Turm, dessen Zusam¬
mensturz droht, bei jedem Stundenschlage neu ertönt, mit der Uhr
in der Tasche des Toten, die weiterrückt und pickt, während
ihren Herrn keine Zeit mehr kümmert, mit den Blumen, die im
vergessenen Winkel eines Gartens fort und fort blühn, obschon
kein Weg mehr zu ihnen führt, und ihre Farbe und ihr Duft keinen Sinn
mehr laben: mit was allem ist die Lyrik unsrer Tage nicht schon verglichen
worden! Jedes Bild soll die hoffnungslose Lage des lyrischen Dichters von
hente ausdrücken, der mit Vergangenheit und Gegenwart zugleich kämpft, mit
einer Vergangenheit, die in langer glücklicher Muße die Perle» echter lyrischer
Dichtung bergehoch gehaust hat, mit einer Gegenwart, die in verzweifelter
Ichsucht und hartem Ringen um „Brot im allerweitsten Sinn" die Stimmung
nie oder doch nur selten und flüchtig finden kann, die zur Teilnahme am Liede,
um lyrischen Gedicht überhaupt unerläßlich ist. Zwar gewinnt es von Zeit
zu Zeit den Anschein, als ob der Höhepunkt der öden, unlyrischen Modernität
überschritten sei, hie und da regt sich eine Teilnahme, wenn nicht für den
seelischen Gehalt und die Phantasie wirklicher Dichter, doch für die Gedrängtheit
der gebundnen Form; der wüste Nomanplunder, mit dem wir überschwemmt
worden sind, übt einen Rückschlag auf die Neigungen der Leser, und der Rück¬
schlag kommt hie und da der Lyrik zu gute. Doch hat dieses scheinbare
Neuerwacheu der Empfänglichkeit für lyrische Poesie noch immer Gepräge und
Anstrich täuschender Vvrfrühlingstage. Die Sonne scheint hell, aber nicht
warm, es taut und friert in derselben Stunde, es verheißt mittags den Lenz
und wandelt sich abends wieder zum Winter. Der rechte Anteil, der von
lyrischer Kraft und Innigkeit, von lyrischer Kunst ergriffen und beglückt ist,
fehlt doch noch überall, in das Interesse der Gebildeten mischt sich zu viel
Kritik, mitten in dem lauten Ruf nach Natur merkt man, wie naturlos dieses
Geschlecht ist, das allenfalls noch von dem Sturm der Leidenschaft, aber nicht
von dem Hauch der Innigkeit, von der kräftigen Lust in sich befriedigten
Lebens berührt wird. Und so wird es wohl dabei bleiben, daß die Wirkung
aller modernen Lyrik vereinzelt und mehr zufällig, als sicher vorauszubestimmen


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[0091] [Abbildung] B isinar >k Gin Kapitel von deutscher Lyrik i it d ein Glockenspiel, das in dem brennenden Turm, dessen Zusam¬ mensturz droht, bei jedem Stundenschlage neu ertönt, mit der Uhr in der Tasche des Toten, die weiterrückt und pickt, während ihren Herrn keine Zeit mehr kümmert, mit den Blumen, die im vergessenen Winkel eines Gartens fort und fort blühn, obschon kein Weg mehr zu ihnen führt, und ihre Farbe und ihr Duft keinen Sinn mehr laben: mit was allem ist die Lyrik unsrer Tage nicht schon verglichen worden! Jedes Bild soll die hoffnungslose Lage des lyrischen Dichters von hente ausdrücken, der mit Vergangenheit und Gegenwart zugleich kämpft, mit einer Vergangenheit, die in langer glücklicher Muße die Perle» echter lyrischer Dichtung bergehoch gehaust hat, mit einer Gegenwart, die in verzweifelter Ichsucht und hartem Ringen um „Brot im allerweitsten Sinn" die Stimmung nie oder doch nur selten und flüchtig finden kann, die zur Teilnahme am Liede, um lyrischen Gedicht überhaupt unerläßlich ist. Zwar gewinnt es von Zeit zu Zeit den Anschein, als ob der Höhepunkt der öden, unlyrischen Modernität überschritten sei, hie und da regt sich eine Teilnahme, wenn nicht für den seelischen Gehalt und die Phantasie wirklicher Dichter, doch für die Gedrängtheit der gebundnen Form; der wüste Nomanplunder, mit dem wir überschwemmt worden sind, übt einen Rückschlag auf die Neigungen der Leser, und der Rück¬ schlag kommt hie und da der Lyrik zu gute. Doch hat dieses scheinbare Neuerwacheu der Empfänglichkeit für lyrische Poesie noch immer Gepräge und Anstrich täuschender Vvrfrühlingstage. Die Sonne scheint hell, aber nicht warm, es taut und friert in derselben Stunde, es verheißt mittags den Lenz und wandelt sich abends wieder zum Winter. Der rechte Anteil, der von lyrischer Kraft und Innigkeit, von lyrischer Kunst ergriffen und beglückt ist, fehlt doch noch überall, in das Interesse der Gebildeten mischt sich zu viel Kritik, mitten in dem lauten Ruf nach Natur merkt man, wie naturlos dieses Geschlecht ist, das allenfalls noch von dem Sturm der Leidenschaft, aber nicht von dem Hauch der Innigkeit, von der kräftigen Lust in sich befriedigten Lebens berührt wird. Und so wird es wohl dabei bleiben, daß die Wirkung aller modernen Lyrik vereinzelt und mehr zufällig, als sicher vorauszubestimmen Gren,',l'oder 1 t6!)Z II

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/91>, abgerufen am 28.04.2024.