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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Ein Kapitel von deutscher Lyrik

ist. Erstehen trotzdem immer neue Dichter, die nach innerer Notwendigkeit
dichten und die zerstreute und flüchtige Aufnahme ihrer Gedichte als ein Übel
hinnehmen, das von der Kunst unzertrennlich sei, so wollen wir das gern zu
den Zeichen rechnen, die uns noch immer an eine glücklichere Zukunft der
deutschen Litteratur glauben lasten. Auch räumen wir ein, daß gerade die
besten lyrischen Dichter ein Recht darauf haben, von der Masse kläglicher
Dilettanten unterschieden zu werden, die ihre Spatzcnweisen auf allen Gassen
und in allen Winkeln pfeifen. Nur mögen uns die Lyriker zugestehn, daß es
von Jahr zu Jahr schwerer wird, die echte Stimmung, die wirklich anschauende
Phantasie aus ihrer Umgebung von lyrischer Tändelei und traditionellen, er¬
zählenden Bänkclsang zu lösen. Ani so schwerer, als es zwischen den Lebens-
äußerungen wahrhaft poetischer Natur und den bloßen Nachahmungen eine
wunderliche Art von Gedichten giebt, die die Kennzeichen beider tragen. Unsre
mittelalterlichen Alchimisten - wenigstens einige von ihnen -- nahmen an,
daß zwar die sechs unvollkommnen Metalle bei Hinzuthat des rechten roten
Magisteriums alle in Gold verwandelt würden, daß aber, wo das Mngisterium
ungenügend sei, die Möglichkeit bleibe, daß sich Eisen, Zinn, Kupfer, Blei
und Quecksilber zuvor in Silber wandelten. Auf dem Wege vom poetisch an¬
geregten Menschen zum Dichter scheinen ähnliche unzulängliche Wandlungen
ziemlich häusig zu sein.

Daß man sich, wenn kein Gold zu Tage kommen will, auch mit Silber
begnügen und an seinem doch immerhin edeln Glänze erfreuen kaun, das er¬
fährt und lehrt uns der Cottaische Musenalmanach, der auch für 1893
in sehr zierlicher Ausstattung und mit sechs Heliogravüren (nach G. von Hößliu,
F. Bodenmüller, N. Beyschlag, C. Hoff, W. Kray. A. Ueberhand) erschienen
ist. Läßt sich annehmen, daß der Versuch, die beste Lyrik der Zeit in sorg¬
fältig gesichteten Proben wieder in einem Musenalmanach zu sammeln, so viel
Publikum gewonnen habe, um noch auf Jahre hinaus erneuert zu werden?
Wäre das der Fall, gewöhnte sich nur ein Zehntel der Deutschen, die nur
zu Weihnachten ein Paar Bücher kaufen, den neuen Musenalmanach auf den
Gabentisch zu legen, so würden nicht bloß der Herausgeber (Otto Braun) und
der Verleger ihre Sorgfalt und Mühe belohnt sehen, sondern es würde das
auch dem Unterscheidungsvermögen und der Empfänglichkeit für lyrische Dich¬
tung vielseitig zu gute kommen. Denn wenn man auch den strengsten Ma߬
stab an Brauns Sammlung legt, so wird man doch zugestehen müsse", daß der
Dilettantismus und die künstlerische Unmündigkeit, die Trivialitäten reimt, in
ihr keinen Eingang finden, daß der gute Geschmack des Herausgebers selbst
dann noch für das Innehalten einer gewissen Grenze bürgt, wenn einer oder
der andre der hier vereinigten Homeriden zufällig sein Schlafstündchen hat.
Auch der diesjährige Musenalmanach enthält nicht nur eine Reihe der besten
Namen der Gegenwart, sondern auch eine Folge guter, ja selbst einige vor-


Ein Kapitel von deutscher Lyrik

ist. Erstehen trotzdem immer neue Dichter, die nach innerer Notwendigkeit
dichten und die zerstreute und flüchtige Aufnahme ihrer Gedichte als ein Übel
hinnehmen, das von der Kunst unzertrennlich sei, so wollen wir das gern zu
den Zeichen rechnen, die uns noch immer an eine glücklichere Zukunft der
deutschen Litteratur glauben lasten. Auch räumen wir ein, daß gerade die
besten lyrischen Dichter ein Recht darauf haben, von der Masse kläglicher
Dilettanten unterschieden zu werden, die ihre Spatzcnweisen auf allen Gassen
und in allen Winkeln pfeifen. Nur mögen uns die Lyriker zugestehn, daß es
von Jahr zu Jahr schwerer wird, die echte Stimmung, die wirklich anschauende
Phantasie aus ihrer Umgebung von lyrischer Tändelei und traditionellen, er¬
zählenden Bänkclsang zu lösen. Ani so schwerer, als es zwischen den Lebens-
äußerungen wahrhaft poetischer Natur und den bloßen Nachahmungen eine
wunderliche Art von Gedichten giebt, die die Kennzeichen beider tragen. Unsre
mittelalterlichen Alchimisten - wenigstens einige von ihnen — nahmen an,
daß zwar die sechs unvollkommnen Metalle bei Hinzuthat des rechten roten
Magisteriums alle in Gold verwandelt würden, daß aber, wo das Mngisterium
ungenügend sei, die Möglichkeit bleibe, daß sich Eisen, Zinn, Kupfer, Blei
und Quecksilber zuvor in Silber wandelten. Auf dem Wege vom poetisch an¬
geregten Menschen zum Dichter scheinen ähnliche unzulängliche Wandlungen
ziemlich häusig zu sein.

Daß man sich, wenn kein Gold zu Tage kommen will, auch mit Silber
begnügen und an seinem doch immerhin edeln Glänze erfreuen kaun, das er¬
fährt und lehrt uns der Cottaische Musenalmanach, der auch für 1893
in sehr zierlicher Ausstattung und mit sechs Heliogravüren (nach G. von Hößliu,
F. Bodenmüller, N. Beyschlag, C. Hoff, W. Kray. A. Ueberhand) erschienen
ist. Läßt sich annehmen, daß der Versuch, die beste Lyrik der Zeit in sorg¬
fältig gesichteten Proben wieder in einem Musenalmanach zu sammeln, so viel
Publikum gewonnen habe, um noch auf Jahre hinaus erneuert zu werden?
Wäre das der Fall, gewöhnte sich nur ein Zehntel der Deutschen, die nur
zu Weihnachten ein Paar Bücher kaufen, den neuen Musenalmanach auf den
Gabentisch zu legen, so würden nicht bloß der Herausgeber (Otto Braun) und
der Verleger ihre Sorgfalt und Mühe belohnt sehen, sondern es würde das
auch dem Unterscheidungsvermögen und der Empfänglichkeit für lyrische Dich¬
tung vielseitig zu gute kommen. Denn wenn man auch den strengsten Ma߬
stab an Brauns Sammlung legt, so wird man doch zugestehen müsse», daß der
Dilettantismus und die künstlerische Unmündigkeit, die Trivialitäten reimt, in
ihr keinen Eingang finden, daß der gute Geschmack des Herausgebers selbst
dann noch für das Innehalten einer gewissen Grenze bürgt, wenn einer oder
der andre der hier vereinigten Homeriden zufällig sein Schlafstündchen hat.
Auch der diesjährige Musenalmanach enthält nicht nur eine Reihe der besten
Namen der Gegenwart, sondern auch eine Folge guter, ja selbst einige vor-


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[0092] Ein Kapitel von deutscher Lyrik ist. Erstehen trotzdem immer neue Dichter, die nach innerer Notwendigkeit dichten und die zerstreute und flüchtige Aufnahme ihrer Gedichte als ein Übel hinnehmen, das von der Kunst unzertrennlich sei, so wollen wir das gern zu den Zeichen rechnen, die uns noch immer an eine glücklichere Zukunft der deutschen Litteratur glauben lasten. Auch räumen wir ein, daß gerade die besten lyrischen Dichter ein Recht darauf haben, von der Masse kläglicher Dilettanten unterschieden zu werden, die ihre Spatzcnweisen auf allen Gassen und in allen Winkeln pfeifen. Nur mögen uns die Lyriker zugestehn, daß es von Jahr zu Jahr schwerer wird, die echte Stimmung, die wirklich anschauende Phantasie aus ihrer Umgebung von lyrischer Tändelei und traditionellen, er¬ zählenden Bänkclsang zu lösen. Ani so schwerer, als es zwischen den Lebens- äußerungen wahrhaft poetischer Natur und den bloßen Nachahmungen eine wunderliche Art von Gedichten giebt, die die Kennzeichen beider tragen. Unsre mittelalterlichen Alchimisten - wenigstens einige von ihnen — nahmen an, daß zwar die sechs unvollkommnen Metalle bei Hinzuthat des rechten roten Magisteriums alle in Gold verwandelt würden, daß aber, wo das Mngisterium ungenügend sei, die Möglichkeit bleibe, daß sich Eisen, Zinn, Kupfer, Blei und Quecksilber zuvor in Silber wandelten. Auf dem Wege vom poetisch an¬ geregten Menschen zum Dichter scheinen ähnliche unzulängliche Wandlungen ziemlich häusig zu sein. Daß man sich, wenn kein Gold zu Tage kommen will, auch mit Silber begnügen und an seinem doch immerhin edeln Glänze erfreuen kaun, das er¬ fährt und lehrt uns der Cottaische Musenalmanach, der auch für 1893 in sehr zierlicher Ausstattung und mit sechs Heliogravüren (nach G. von Hößliu, F. Bodenmüller, N. Beyschlag, C. Hoff, W. Kray. A. Ueberhand) erschienen ist. Läßt sich annehmen, daß der Versuch, die beste Lyrik der Zeit in sorg¬ fältig gesichteten Proben wieder in einem Musenalmanach zu sammeln, so viel Publikum gewonnen habe, um noch auf Jahre hinaus erneuert zu werden? Wäre das der Fall, gewöhnte sich nur ein Zehntel der Deutschen, die nur zu Weihnachten ein Paar Bücher kaufen, den neuen Musenalmanach auf den Gabentisch zu legen, so würden nicht bloß der Herausgeber (Otto Braun) und der Verleger ihre Sorgfalt und Mühe belohnt sehen, sondern es würde das auch dem Unterscheidungsvermögen und der Empfänglichkeit für lyrische Dich¬ tung vielseitig zu gute kommen. Denn wenn man auch den strengsten Ma߬ stab an Brauns Sammlung legt, so wird man doch zugestehen müsse», daß der Dilettantismus und die künstlerische Unmündigkeit, die Trivialitäten reimt, in ihr keinen Eingang finden, daß der gute Geschmack des Herausgebers selbst dann noch für das Innehalten einer gewissen Grenze bürgt, wenn einer oder der andre der hier vereinigten Homeriden zufällig sein Schlafstündchen hat. Auch der diesjährige Musenalmanach enthält nicht nur eine Reihe der besten Namen der Gegenwart, sondern auch eine Folge guter, ja selbst einige vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/92>, abgerufen am 13.05.2024.