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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Zukunft der nationalliberalen Partei

le Aussichten der nationalliberalen Partei bei "eilen Neichstags-
wahlen sind -- wie Herr von Bennigsen eingestanden hat --
schlecht, "ut seine berühmte Rede hat sie nicht verbessert.
Indem er der Negierung vor der Neichstagsauflvsung bange zu
machen versuchte, hat er ihr gezeigt, wie sehr die von ihm ge¬
leitete Partei diese Auflösung zu scheuen hat, ohne daß es ihm
geglückt wäre, in das wundervolle Selbstvertrauen, mit dem Graf Caprivi einem
so wichtige" Ereignis entgegengeht, Bresche zu legen. Einen Nutzen für die
Partei hat die Rede nicht gehabt, ebenso wenig das dem Negicrnngsentwurf so
weit entgegenkommende Angebot einer Heeresverstärknng; formale Anerkennung
des gut disponirenden Redners von feiten einiger Gegner -- das war alles. Es
würde uicht schwer sein, in der Geschichte der nationalliberalen Partei während
der letzten zwanzig Jahre ähnliche Erfolge zu entdecken, aber persönliche Angriffe
sind nicht der Zweck dieser Zeilen; es genügt festzustellen, daß der gegenwär¬
tige Führer der Partei mit der gegenwärtig befolgten Politik in dem bevor¬
stehenden Wahlkampf eine Niederlage voraussieht.

Auch deu Geführten in der Partei scheint diese Aussicht ziemlich deutlich
geworden zu sein, denn es heißt, ans einem Parteitage im Mai solle das
"Programm revidirt" werden, was, ins Deutsche übersetzt, bekanntlich so viel
besagen will, wie daß man "icht mehr zweifelt, sich ans einem Holzwege zu
befinden.

Es ist wirklich rührend, heutzutage von der Abänderung einiger Sätze in
der gedruckten Parteiverfassnng eine Wirkung ans die Wähler zu erwarten.
Man gehe doch einmal in eine Volksversammlung, sei es auch eine sozial-
demokratische oder eine antisemitische: ist da schon jemals der "ationalliberalen
Partei ihr Programm zum Vorwurf gemacht worden? Man höre doch mir
hin, was da gesagt wird, es klingt nicht angenehm; aber wenn man das Volk
beeinflussen will, muß man doch zuvörderst wisse", was es verlangt. Also
uicht ihr Programm hat man den "ationalliberalen Reichstagsmitgliedern vor¬
geworfen, sondern ihre Taktik: Abfall vom Programm, Nückgratlosigkeit, Schwäche
gegen die Regierung, Kompromißsucht, Ausbeutung der Partcistellung für die
persönlichen Zwecke' der Führer, Mißachtung der Volkswttnsche, Mangel an
Fühlung mit den Wählern.

Es soll hier nicht untersucht werde", ob alle diese Vorwürfe zutreffen,
denn wir möchten nicht in der Vergangenheit wühlen, sondern eine bessere
Zukunft vorbereiten helfen. Nur das'zu betonen ist unerläßlich, daß das Volk
mit seinem Tadel in richtigem Gefühl den wunden Punkt in dem Verhalten
der Partei getroffen hat. Also wenn die leitenden Persönlichkeiten überhaupt




Die Zukunft der nationalliberalen Partei

le Aussichten der nationalliberalen Partei bei »eilen Neichstags-
wahlen sind — wie Herr von Bennigsen eingestanden hat —
schlecht, »ut seine berühmte Rede hat sie nicht verbessert.
Indem er der Negierung vor der Neichstagsauflvsung bange zu
machen versuchte, hat er ihr gezeigt, wie sehr die von ihm ge¬
leitete Partei diese Auflösung zu scheuen hat, ohne daß es ihm
geglückt wäre, in das wundervolle Selbstvertrauen, mit dem Graf Caprivi einem
so wichtige» Ereignis entgegengeht, Bresche zu legen. Einen Nutzen für die
Partei hat die Rede nicht gehabt, ebenso wenig das dem Negicrnngsentwurf so
weit entgegenkommende Angebot einer Heeresverstärknng; formale Anerkennung
des gut disponirenden Redners von feiten einiger Gegner — das war alles. Es
würde uicht schwer sein, in der Geschichte der nationalliberalen Partei während
der letzten zwanzig Jahre ähnliche Erfolge zu entdecken, aber persönliche Angriffe
sind nicht der Zweck dieser Zeilen; es genügt festzustellen, daß der gegenwär¬
tige Führer der Partei mit der gegenwärtig befolgten Politik in dem bevor¬
stehenden Wahlkampf eine Niederlage voraussieht.

Auch deu Geführten in der Partei scheint diese Aussicht ziemlich deutlich
geworden zu sein, denn es heißt, ans einem Parteitage im Mai solle das
„Programm revidirt" werden, was, ins Deutsche übersetzt, bekanntlich so viel
besagen will, wie daß man »icht mehr zweifelt, sich ans einem Holzwege zu
befinden.

Es ist wirklich rührend, heutzutage von der Abänderung einiger Sätze in
der gedruckten Parteiverfassnng eine Wirkung ans die Wähler zu erwarten.
Man gehe doch einmal in eine Volksversammlung, sei es auch eine sozial-
demokratische oder eine antisemitische: ist da schon jemals der »ationalliberalen
Partei ihr Programm zum Vorwurf gemacht worden? Man höre doch mir
hin, was da gesagt wird, es klingt nicht angenehm; aber wenn man das Volk
beeinflussen will, muß man doch zuvörderst wisse», was es verlangt. Also
uicht ihr Programm hat man den „ationalliberalen Reichstagsmitgliedern vor¬
geworfen, sondern ihre Taktik: Abfall vom Programm, Nückgratlosigkeit, Schwäche
gegen die Regierung, Kompromißsucht, Ausbeutung der Partcistellung für die
persönlichen Zwecke' der Führer, Mißachtung der Volkswttnsche, Mangel an
Fühlung mit den Wählern.

Es soll hier nicht untersucht werde», ob alle diese Vorwürfe zutreffen,
denn wir möchten nicht in der Vergangenheit wühlen, sondern eine bessere
Zukunft vorbereiten helfen. Nur das'zu betonen ist unerläßlich, daß das Volk
mit seinem Tadel in richtigem Gefühl den wunden Punkt in dem Verhalten
der Partei getroffen hat. Also wenn die leitenden Persönlichkeiten überhaupt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/239>, abgerufen am 06.05.2024.