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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Theodor von Berichardis Jugenderinnerungen

fassung in Zukunft gestalten mag, die Zusammenhäufung als solche ist geeignet,
schablonenhafte Menschen von verkümmerter Individualität hervorzubringen. Es
stünde traurig um die Zukunft des Menschengeschlechts, wenn ähnliche Formen
des gesellschaftlichen Lebens auf dem Lande Platz greifen würden ^griffen!^.
Nun ist aber gewiß, daß sich die ländliche Entwicklung nicht in der Richtung
einer zunehmenden Ausbildung großer Arbeitsgemeinschaften mehr oder weniger
sozialistischer Natur bewegt, die deu einzelnen Herabdrücken, sei es min zu
Gunsten weniger bevorzugter, sei es zu Gunsten großer Verbände oder "der
Gesellschaft," sondern in der Richtung fortschreitender Verselbständigung des
einzelnen arbeitenden Wirtes und der Einzelfamilie, denen größere Organi¬
sationen nur ergänzend zur Seite treten. Das heißt nichts andres als: die
Freiheit flüchtet aus den Städten aufs Land -- jene wahre Freiheit, die
nicht besteht in der Herrschaft beherrschter Majoritäten, sondern sich gründet
auf die harmonische Ausbildung der körperlichen und geistigen Kräfte zu ge¬
schlossenen Individualitäten, die sich in Selbstzucht und echtem Gemeinsinn
nach eigner Bestimmung bethätigen."

sSchluß folgt)




Theodor von Bernhardts Iugenoerinnerungen

heodor von Bernhardt war unstreitig einer der bedeutendsten
Männer unsrer Zeit. In seiner Person vereinigte er den Histo¬
riker mit dem Nationalökonomen, den Kunstkenner mit dem Militär¬
schriftsteller zu einer sest abgeschlossenen Gestalt; seine Lebensschick¬
sale hatten sich ferner so eigentümlich entwickelt, daß die frühe
Reife des Urteils wie die völlige Freiheit von Vorurteilen die Grundlage für
eine Art historischen Urteils abgeben mußte, die einem auf gewöhnlicher Lebens¬
bahn schreitenden Gelehrten schon sein Bildungsgang unmöglich macht. Ob
freilich das große Publikum eine Vorstellung davon hat, was für ein Mann
am 12. Februar 1887 aus dem Leben schied, muß dahingestellt bleiben: von
seinem Hauptwerke, der Geschichte Rußlands -- einer der besten historischen
Leistungen größten Stils, die unsre Litteratur auszuweisen hat --, ist noch keine
zweite Auflage erschiene!!, währeud "Rembrandt als Erzieher" bereits die ein-
nndvierzigste Auflage erlebt hat. Man gewinnt, wenn man die Eigentümlich¬
keiten des deutschen Büchermarktes und des deutschen bücherkaufenden Publikums
betrachtet, wirklich deu bornirten Piemontesen Lamarmora lieb, der als italie¬
nischer Ministerpräsident die Sendung Bernhardts nach Florenz übel nahm,


Theodor von Berichardis Jugenderinnerungen

fassung in Zukunft gestalten mag, die Zusammenhäufung als solche ist geeignet,
schablonenhafte Menschen von verkümmerter Individualität hervorzubringen. Es
stünde traurig um die Zukunft des Menschengeschlechts, wenn ähnliche Formen
des gesellschaftlichen Lebens auf dem Lande Platz greifen würden ^griffen!^.
Nun ist aber gewiß, daß sich die ländliche Entwicklung nicht in der Richtung
einer zunehmenden Ausbildung großer Arbeitsgemeinschaften mehr oder weniger
sozialistischer Natur bewegt, die deu einzelnen Herabdrücken, sei es min zu
Gunsten weniger bevorzugter, sei es zu Gunsten großer Verbände oder »der
Gesellschaft,« sondern in der Richtung fortschreitender Verselbständigung des
einzelnen arbeitenden Wirtes und der Einzelfamilie, denen größere Organi¬
sationen nur ergänzend zur Seite treten. Das heißt nichts andres als: die
Freiheit flüchtet aus den Städten aufs Land — jene wahre Freiheit, die
nicht besteht in der Herrschaft beherrschter Majoritäten, sondern sich gründet
auf die harmonische Ausbildung der körperlichen und geistigen Kräfte zu ge¬
schlossenen Individualitäten, die sich in Selbstzucht und echtem Gemeinsinn
nach eigner Bestimmung bethätigen."

sSchluß folgt)




Theodor von Bernhardts Iugenoerinnerungen

heodor von Bernhardt war unstreitig einer der bedeutendsten
Männer unsrer Zeit. In seiner Person vereinigte er den Histo¬
riker mit dem Nationalökonomen, den Kunstkenner mit dem Militär¬
schriftsteller zu einer sest abgeschlossenen Gestalt; seine Lebensschick¬
sale hatten sich ferner so eigentümlich entwickelt, daß die frühe
Reife des Urteils wie die völlige Freiheit von Vorurteilen die Grundlage für
eine Art historischen Urteils abgeben mußte, die einem auf gewöhnlicher Lebens¬
bahn schreitenden Gelehrten schon sein Bildungsgang unmöglich macht. Ob
freilich das große Publikum eine Vorstellung davon hat, was für ein Mann
am 12. Februar 1887 aus dem Leben schied, muß dahingestellt bleiben: von
seinem Hauptwerke, der Geschichte Rußlands — einer der besten historischen
Leistungen größten Stils, die unsre Litteratur auszuweisen hat —, ist noch keine
zweite Auflage erschiene!!, währeud „Rembrandt als Erzieher" bereits die ein-
nndvierzigste Auflage erlebt hat. Man gewinnt, wenn man die Eigentümlich¬
keiten des deutschen Büchermarktes und des deutschen bücherkaufenden Publikums
betrachtet, wirklich deu bornirten Piemontesen Lamarmora lieb, der als italie¬
nischer Ministerpräsident die Sendung Bernhardts nach Florenz übel nahm,


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[0261] Theodor von Berichardis Jugenderinnerungen fassung in Zukunft gestalten mag, die Zusammenhäufung als solche ist geeignet, schablonenhafte Menschen von verkümmerter Individualität hervorzubringen. Es stünde traurig um die Zukunft des Menschengeschlechts, wenn ähnliche Formen des gesellschaftlichen Lebens auf dem Lande Platz greifen würden ^griffen!^. Nun ist aber gewiß, daß sich die ländliche Entwicklung nicht in der Richtung einer zunehmenden Ausbildung großer Arbeitsgemeinschaften mehr oder weniger sozialistischer Natur bewegt, die deu einzelnen Herabdrücken, sei es min zu Gunsten weniger bevorzugter, sei es zu Gunsten großer Verbände oder »der Gesellschaft,« sondern in der Richtung fortschreitender Verselbständigung des einzelnen arbeitenden Wirtes und der Einzelfamilie, denen größere Organi¬ sationen nur ergänzend zur Seite treten. Das heißt nichts andres als: die Freiheit flüchtet aus den Städten aufs Land — jene wahre Freiheit, die nicht besteht in der Herrschaft beherrschter Majoritäten, sondern sich gründet auf die harmonische Ausbildung der körperlichen und geistigen Kräfte zu ge¬ schlossenen Individualitäten, die sich in Selbstzucht und echtem Gemeinsinn nach eigner Bestimmung bethätigen." sSchluß folgt) Theodor von Bernhardts Iugenoerinnerungen heodor von Bernhardt war unstreitig einer der bedeutendsten Männer unsrer Zeit. In seiner Person vereinigte er den Histo¬ riker mit dem Nationalökonomen, den Kunstkenner mit dem Militär¬ schriftsteller zu einer sest abgeschlossenen Gestalt; seine Lebensschick¬ sale hatten sich ferner so eigentümlich entwickelt, daß die frühe Reife des Urteils wie die völlige Freiheit von Vorurteilen die Grundlage für eine Art historischen Urteils abgeben mußte, die einem auf gewöhnlicher Lebens¬ bahn schreitenden Gelehrten schon sein Bildungsgang unmöglich macht. Ob freilich das große Publikum eine Vorstellung davon hat, was für ein Mann am 12. Februar 1887 aus dem Leben schied, muß dahingestellt bleiben: von seinem Hauptwerke, der Geschichte Rußlands — einer der besten historischen Leistungen größten Stils, die unsre Litteratur auszuweisen hat —, ist noch keine zweite Auflage erschiene!!, währeud „Rembrandt als Erzieher" bereits die ein- nndvierzigste Auflage erlebt hat. Man gewinnt, wenn man die Eigentümlich¬ keiten des deutschen Büchermarktes und des deutschen bücherkaufenden Publikums betrachtet, wirklich deu bornirten Piemontesen Lamarmora lieb, der als italie¬ nischer Ministerpräsident die Sendung Bernhardts nach Florenz übel nahm,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/261>, abgerufen am 06.05.2024.