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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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trachten. Ohne Nebenrücksichten soll er der Feststellung der Wahrheit nach¬
gehen. Glaubt er sie gefunden zu haben, so muß ihm der Wunsch unverwehrt
sein, sie zum Nutzen der Welt verwendet zu sehen. Es kann eine Repro¬
duktion älterer Musik geben, die nur den Zweck des wissenschaftlichen Experi¬
ments hat. Daneben aber auch eine solche, die verloren gegcmgne Schönheits¬
ideale wieder zu Ehren bringen und dadurch das geistige Leben der Zeit
bereichern und erfrischen will. Oft wird es der Fall fein, daß das wissen¬
schaftliche Experiment zur Wiederentdecknng eines solchen Ideals führt, daß der
Kunstgelehrte findet, was der Künstler alsdann fruchtbar macht. Und damit
treten wir auf die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf der uns
die Schätze der Musik unsrer Vorfahren zum vollsten Eigentum wieder zu-
geführt werden. Es ist notwendig, daß sich der Künstler ihrer bemächtigt
und die durch die Kunstwissenschaft zu Tage geförderten Barren ausmünzt.

So ist es geschehen mit Bach und Palestnna. so wird es weiter ge¬
schehen mit allem Großen, was die Musikschachte vergangner Jahrhunderte
noch für uus bergen. Das Echte bleibt der Nachwelt unverlorcn. Es gab
eine Zeit, da fühlten sich die dentschen Musiker reich genug, von dem zu leben.
was sie selber aufbrachten. Dies Selbstgefühl fängt an, wankend zu werden.
Aber sie brauchen nicht zu verzagen; im Rücken liegt ihnen ein kostbares Erbe,
an das sie sich lehnen können. Noch ahnen sie kaum, wie umfangreich es ist.
Die "Denkmäler deutscher Tonkunst" werden helfen, seine Größe offenbar zu
machen.


Philipp Spitta


Proletarierdichter und jDroletarierlieder

roletarier ist ein sehr unamtliches, wenn nicht gar ein unparla¬
mentarisches Wort. Niemand wird von Amts wegen Proletarier
genannt. Wenn man unter der "bessern Gesellschaft," die die
Sozialdemokratin! die "sogenannte" bessere Gesellschaft nennen,
eine der beliebten modernen Nbstimmuugen veranstaltete über
die Frage, ob es ein Proletariat gebe oder nicht, es wäre sehr zweifelhaft,
ob sich die Mehrheit nicht gegen das Dasein des Proletariats entschiede. Was
weiß die bessere Gesellschaft von den Proletariern? Anders wäre es, wenn
das Wort mit einem amtlichen Stempel versehen wäre, vor dem natürlich
jedermann die gebührende Hochachtung hätte. Vielleicht weckt jedoch das Wort
in deu Mitgliedern der "Gesellschaft" eine entfernte Erinnerung von der Schul¬
bank her, die wenigstens halbamtlich ist. Dort haben sie bei Gelegenheit im
Geschichtsunterricht die sechs Klassen der Verfassung des alten Servius lernen


trachten. Ohne Nebenrücksichten soll er der Feststellung der Wahrheit nach¬
gehen. Glaubt er sie gefunden zu haben, so muß ihm der Wunsch unverwehrt
sein, sie zum Nutzen der Welt verwendet zu sehen. Es kann eine Repro¬
duktion älterer Musik geben, die nur den Zweck des wissenschaftlichen Experi¬
ments hat. Daneben aber auch eine solche, die verloren gegcmgne Schönheits¬
ideale wieder zu Ehren bringen und dadurch das geistige Leben der Zeit
bereichern und erfrischen will. Oft wird es der Fall fein, daß das wissen¬
schaftliche Experiment zur Wiederentdecknng eines solchen Ideals führt, daß der
Kunstgelehrte findet, was der Künstler alsdann fruchtbar macht. Und damit
treten wir auf die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf der uns
die Schätze der Musik unsrer Vorfahren zum vollsten Eigentum wieder zu-
geführt werden. Es ist notwendig, daß sich der Künstler ihrer bemächtigt
und die durch die Kunstwissenschaft zu Tage geförderten Barren ausmünzt.

So ist es geschehen mit Bach und Palestnna. so wird es weiter ge¬
schehen mit allem Großen, was die Musikschachte vergangner Jahrhunderte
noch für uus bergen. Das Echte bleibt der Nachwelt unverlorcn. Es gab
eine Zeit, da fühlten sich die dentschen Musiker reich genug, von dem zu leben.
was sie selber aufbrachten. Dies Selbstgefühl fängt an, wankend zu werden.
Aber sie brauchen nicht zu verzagen; im Rücken liegt ihnen ein kostbares Erbe,
an das sie sich lehnen können. Noch ahnen sie kaum, wie umfangreich es ist.
Die „Denkmäler deutscher Tonkunst" werden helfen, seine Größe offenbar zu
machen.


Philipp Spitta


Proletarierdichter und jDroletarierlieder

roletarier ist ein sehr unamtliches, wenn nicht gar ein unparla¬
mentarisches Wort. Niemand wird von Amts wegen Proletarier
genannt. Wenn man unter der „bessern Gesellschaft," die die
Sozialdemokratin! die „sogenannte" bessere Gesellschaft nennen,
eine der beliebten modernen Nbstimmuugen veranstaltete über
die Frage, ob es ein Proletariat gebe oder nicht, es wäre sehr zweifelhaft,
ob sich die Mehrheit nicht gegen das Dasein des Proletariats entschiede. Was
weiß die bessere Gesellschaft von den Proletariern? Anders wäre es, wenn
das Wort mit einem amtlichen Stempel versehen wäre, vor dem natürlich
jedermann die gebührende Hochachtung hätte. Vielleicht weckt jedoch das Wort
in deu Mitgliedern der „Gesellschaft" eine entfernte Erinnerung von der Schul¬
bank her, die wenigstens halbamtlich ist. Dort haben sie bei Gelegenheit im
Geschichtsunterricht die sechs Klassen der Verfassung des alten Servius lernen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/35>, abgerufen am 06.05.2024.