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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Denkmäler deutscher Tonkmist

auf ästhetischen Genuß vor allein richtig zu lesen und zu deuten, darin sehe
ich einen der wichtigsten Fortschritte der jüngsten Zeit. Und wenn sich mit
der Erkenntnis dessen, was not thut, auch die Kraft des Vollbringens einzu¬
stellen pflegt, so darf mau wohl hoffen, daß ein Unternehmen wie die "Denk¬
mäler der Tonkunst" nicht in eine Zeit fallen werde, die ihm nicht ge¬
wachsen sei.

Ich sage: man will die Kunstwerke richtig lesen und deuten. Das letzte
Wort schließt eine größere Schwierigkeit ein, als mancher mit vergleichenden
Hinblick auf Sprachdenkmäler denken mag. Der Musik vollstes Wesen offen¬
bart sich nur in dem sinnlich wahrnehmbaren Klänge. Man muß also nicht nur
darnach streben, sich vom Gelesenen ein inneres Bild zu machen, sondern es
ins klingende Leben umzusetzen. Weil nun aber die Organe und die Art ihrer
Verwendung unaufhörlichen Veränderungen unterworfen sind, so stößt man
hier auf die größten Hindernisse. Keiner von den Unzähligen, die heute Bachsche
Klaviermusik spielen und hören, hört sie so, wie sie sich der Komponist dachte,
und wie sie seinen Zeitgenossen offenbar wurde. Denn er schrieb für Kiel-
und Tangenten-Klaviere, die unsre Zeit nicht mehr benutzt, die aber im Klang¬
charakter von unsern Hammerklavieren verschieden waren und daher auch eine
ganz verschiedne Seelenstimmung im Hörer hervorriefen. Nicht dem einfachsten
vierstimmigen Gesänge aus Schützers Zeit können wir mit unsern heutigen
Mitteln ohne weiteres genügen, weil die Stiinmklassen anders geordnet waren
und für den Gesang in der Altlage Männerstimmen von jetzt ungebräuchlich
gewordner Schulung verwendet wurden. Wenn Buxtehude auf seiner Marien¬
orgel in Lübeck den IZ-cor-Dreiklang anschlug, so wird der schon, der ungleich
schwebenden Temperatur wegen einen ganz andern Charakter gehabt haben als
heilte; und wie verschieden waren außerdem nach ihrer Konstruktion und der
Mischung unter sich die Orgelregister! Vollends war im siebzehnten Jahr¬
hundert eine Gesangskomposition für Chöre und Einzelstimmen mit Instru¬
menten bezüglich der Besetzung der einzelnen Stimmen, der Art ihrer Kombi¬
nation, der Verwendung der klanglich gleichartigen und ungleichartigen Massen
etwas von unsern Chorwerken ganz verschiednes. Eine originalgetreue, den
Absichten des Komponisten auch im Klänge möglichst genau entsprechende Repro¬
duktion herzustellen, bildet also ebenfalls eine Aufgabe musikalischer Urkunden-
forschuug, eine Aufgabe, an der zugleich aufs deutlichste erkannt werden kann,
wie eignen und teilweise unvergleichbaren Wesens die Musikwissenschaft ist.

Indem jede Art der Reproduktion zugleich eine gewisse schöpferische Thätig¬
keit in sich schließt, scheint diese notwendige Konseanenz musikwissenschaftlicher
Arbeit schon in das Gebiet des Künstlers hinüberzuführeu. Daß die Grenzen
auf beiden Seiten genau erkannt und streng beachtet werden, ist für das Ge¬
deihen der Sache notwendig. Doch wird es dem Gelehrten auf allen Gebiete"
gestattet sein, die Ergebnisse seiner Arbeit nicht nnr als Selbstzweck zu be-


Denkmäler deutscher Tonkmist

auf ästhetischen Genuß vor allein richtig zu lesen und zu deuten, darin sehe
ich einen der wichtigsten Fortschritte der jüngsten Zeit. Und wenn sich mit
der Erkenntnis dessen, was not thut, auch die Kraft des Vollbringens einzu¬
stellen pflegt, so darf mau wohl hoffen, daß ein Unternehmen wie die „Denk¬
mäler der Tonkunst" nicht in eine Zeit fallen werde, die ihm nicht ge¬
wachsen sei.

Ich sage: man will die Kunstwerke richtig lesen und deuten. Das letzte
Wort schließt eine größere Schwierigkeit ein, als mancher mit vergleichenden
Hinblick auf Sprachdenkmäler denken mag. Der Musik vollstes Wesen offen¬
bart sich nur in dem sinnlich wahrnehmbaren Klänge. Man muß also nicht nur
darnach streben, sich vom Gelesenen ein inneres Bild zu machen, sondern es
ins klingende Leben umzusetzen. Weil nun aber die Organe und die Art ihrer
Verwendung unaufhörlichen Veränderungen unterworfen sind, so stößt man
hier auf die größten Hindernisse. Keiner von den Unzähligen, die heute Bachsche
Klaviermusik spielen und hören, hört sie so, wie sie sich der Komponist dachte,
und wie sie seinen Zeitgenossen offenbar wurde. Denn er schrieb für Kiel-
und Tangenten-Klaviere, die unsre Zeit nicht mehr benutzt, die aber im Klang¬
charakter von unsern Hammerklavieren verschieden waren und daher auch eine
ganz verschiedne Seelenstimmung im Hörer hervorriefen. Nicht dem einfachsten
vierstimmigen Gesänge aus Schützers Zeit können wir mit unsern heutigen
Mitteln ohne weiteres genügen, weil die Stiinmklassen anders geordnet waren
und für den Gesang in der Altlage Männerstimmen von jetzt ungebräuchlich
gewordner Schulung verwendet wurden. Wenn Buxtehude auf seiner Marien¬
orgel in Lübeck den IZ-cor-Dreiklang anschlug, so wird der schon, der ungleich
schwebenden Temperatur wegen einen ganz andern Charakter gehabt haben als
heilte; und wie verschieden waren außerdem nach ihrer Konstruktion und der
Mischung unter sich die Orgelregister! Vollends war im siebzehnten Jahr¬
hundert eine Gesangskomposition für Chöre und Einzelstimmen mit Instru¬
menten bezüglich der Besetzung der einzelnen Stimmen, der Art ihrer Kombi¬
nation, der Verwendung der klanglich gleichartigen und ungleichartigen Massen
etwas von unsern Chorwerken ganz verschiednes. Eine originalgetreue, den
Absichten des Komponisten auch im Klänge möglichst genau entsprechende Repro¬
duktion herzustellen, bildet also ebenfalls eine Aufgabe musikalischer Urkunden-
forschuug, eine Aufgabe, an der zugleich aufs deutlichste erkannt werden kann,
wie eignen und teilweise unvergleichbaren Wesens die Musikwissenschaft ist.

Indem jede Art der Reproduktion zugleich eine gewisse schöpferische Thätig¬
keit in sich schließt, scheint diese notwendige Konseanenz musikwissenschaftlicher
Arbeit schon in das Gebiet des Künstlers hinüberzuführeu. Daß die Grenzen
auf beiden Seiten genau erkannt und streng beachtet werden, ist für das Ge¬
deihen der Sache notwendig. Doch wird es dem Gelehrten auf allen Gebiete»
gestattet sein, die Ergebnisse seiner Arbeit nicht nnr als Selbstzweck zu be-


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[0034] Denkmäler deutscher Tonkmist auf ästhetischen Genuß vor allein richtig zu lesen und zu deuten, darin sehe ich einen der wichtigsten Fortschritte der jüngsten Zeit. Und wenn sich mit der Erkenntnis dessen, was not thut, auch die Kraft des Vollbringens einzu¬ stellen pflegt, so darf mau wohl hoffen, daß ein Unternehmen wie die „Denk¬ mäler der Tonkunst" nicht in eine Zeit fallen werde, die ihm nicht ge¬ wachsen sei. Ich sage: man will die Kunstwerke richtig lesen und deuten. Das letzte Wort schließt eine größere Schwierigkeit ein, als mancher mit vergleichenden Hinblick auf Sprachdenkmäler denken mag. Der Musik vollstes Wesen offen¬ bart sich nur in dem sinnlich wahrnehmbaren Klänge. Man muß also nicht nur darnach streben, sich vom Gelesenen ein inneres Bild zu machen, sondern es ins klingende Leben umzusetzen. Weil nun aber die Organe und die Art ihrer Verwendung unaufhörlichen Veränderungen unterworfen sind, so stößt man hier auf die größten Hindernisse. Keiner von den Unzähligen, die heute Bachsche Klaviermusik spielen und hören, hört sie so, wie sie sich der Komponist dachte, und wie sie seinen Zeitgenossen offenbar wurde. Denn er schrieb für Kiel- und Tangenten-Klaviere, die unsre Zeit nicht mehr benutzt, die aber im Klang¬ charakter von unsern Hammerklavieren verschieden waren und daher auch eine ganz verschiedne Seelenstimmung im Hörer hervorriefen. Nicht dem einfachsten vierstimmigen Gesänge aus Schützers Zeit können wir mit unsern heutigen Mitteln ohne weiteres genügen, weil die Stiinmklassen anders geordnet waren und für den Gesang in der Altlage Männerstimmen von jetzt ungebräuchlich gewordner Schulung verwendet wurden. Wenn Buxtehude auf seiner Marien¬ orgel in Lübeck den IZ-cor-Dreiklang anschlug, so wird der schon, der ungleich schwebenden Temperatur wegen einen ganz andern Charakter gehabt haben als heilte; und wie verschieden waren außerdem nach ihrer Konstruktion und der Mischung unter sich die Orgelregister! Vollends war im siebzehnten Jahr¬ hundert eine Gesangskomposition für Chöre und Einzelstimmen mit Instru¬ menten bezüglich der Besetzung der einzelnen Stimmen, der Art ihrer Kombi¬ nation, der Verwendung der klanglich gleichartigen und ungleichartigen Massen etwas von unsern Chorwerken ganz verschiednes. Eine originalgetreue, den Absichten des Komponisten auch im Klänge möglichst genau entsprechende Repro¬ duktion herzustellen, bildet also ebenfalls eine Aufgabe musikalischer Urkunden- forschuug, eine Aufgabe, an der zugleich aufs deutlichste erkannt werden kann, wie eignen und teilweise unvergleichbaren Wesens die Musikwissenschaft ist. Indem jede Art der Reproduktion zugleich eine gewisse schöpferische Thätig¬ keit in sich schließt, scheint diese notwendige Konseanenz musikwissenschaftlicher Arbeit schon in das Gebiet des Künstlers hinüberzuführeu. Daß die Grenzen auf beiden Seiten genau erkannt und streng beachtet werden, ist für das Ge¬ deihen der Sache notwendig. Doch wird es dem Gelehrten auf allen Gebiete» gestattet sein, die Ergebnisse seiner Arbeit nicht nnr als Selbstzweck zu be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/34>, abgerufen am 27.05.2024.