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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zur Naturgeschichte des Pessimismus

le Pessimisten von Fach und Beruf legen sehr entschieden Ver¬
wahrung ein gegen die Vermutung, ihre Philosophie möge wohl
mehr ihrem Temperament als ihrem Kopfe entstammen, und sie
dringen auf die sorgfältige Unterscheidung ihres theoretischen von
allem Stiinmungspcssimisinus. Wir aber behaupten, daß es
andern als Temperaments- und Stimmungspessimismus gar nicht giebt, und
daß die pessimistische Philosophie gerade so zur Rechtfertigung pessimistischer
Stimmungen erfunden worden ist, wie die konstitutionelle Doktrin zur Recht¬
fertigung der Ansprüche des wohlhabenden Bürgertums und die römisch-katho¬
lische Lehre von der Kirche zur Rechtfertigung der Ansprüche des auf histo¬
rischem Wege gewordnen Papsttums. Pessimistische Anwandlungen haben
auch einzelne griechische, italienische und französische Denker gehabt, aber nie¬
mals kommt bei einem heitern Volte der Pessimismus so zur Herrschaft, wie
das bei den Indern geschehen ist und heute in andern Formen bei den Skan¬
dinaviern zu geschehen scheint. Der Wertherpessimismus ist die vorübergehende,
aus bekannten Ursachen entspringende Jünglingsstimmnng. Was dem philo¬
sophischen Pessimismus in Deutschland vorübergehend die höhern Kreise ge¬
wonnen hat, war teils Blasirtheit, teils die Selbstzersetzung nicht des Christen¬
tums, sondern der protestantischen Theologie. Der gemeine Mann aber bat
keine Lust, sich zum Pessimismus bekehren zu lassen, sondern will, sofern die
Negierung keine bessern Wege weiß, auf den Wegen der sozialdemokratischen,
antisemitischen und Partikularistischen Opposition Besserung schaffen oder, falls
das nicht gelingt, alles kurz und klein schlagen; diese Stimmung bekunden
augenblicklich u. a. die bairischen Bauern. In Schottland und England, wo der
Pessimismus sehr nahe läge, schätzt die ungemeine Härte und Widerstandskraft
des Gemüts davor, das unglaubliches zu ertragen vermag; etwaige pessi¬
mistische Anwandlungen pflegen sich hier wie in Spanien in Ausbrüchen des
religiösen Fanatismus zu entladen.

Von dem Vater des modernen Pessimismus ist es bekannt, daß er Me¬
lancholiker war, und die neuen Beitrüge zu seiner Lebensgeschichte, die Sche-
mcmn herausgegeben hat,") bestätigen es. Den Briefen seiner lebenslustigen



*) Schopenhauer-Briefe. Sammlung meist nngedrnckter oder schwer zugänglicher


Zur Naturgeschichte des Pessimismus

le Pessimisten von Fach und Beruf legen sehr entschieden Ver¬
wahrung ein gegen die Vermutung, ihre Philosophie möge wohl
mehr ihrem Temperament als ihrem Kopfe entstammen, und sie
dringen auf die sorgfältige Unterscheidung ihres theoretischen von
allem Stiinmungspcssimisinus. Wir aber behaupten, daß es
andern als Temperaments- und Stimmungspessimismus gar nicht giebt, und
daß die pessimistische Philosophie gerade so zur Rechtfertigung pessimistischer
Stimmungen erfunden worden ist, wie die konstitutionelle Doktrin zur Recht¬
fertigung der Ansprüche des wohlhabenden Bürgertums und die römisch-katho¬
lische Lehre von der Kirche zur Rechtfertigung der Ansprüche des auf histo¬
rischem Wege gewordnen Papsttums. Pessimistische Anwandlungen haben
auch einzelne griechische, italienische und französische Denker gehabt, aber nie¬
mals kommt bei einem heitern Volte der Pessimismus so zur Herrschaft, wie
das bei den Indern geschehen ist und heute in andern Formen bei den Skan¬
dinaviern zu geschehen scheint. Der Wertherpessimismus ist die vorübergehende,
aus bekannten Ursachen entspringende Jünglingsstimmnng. Was dem philo¬
sophischen Pessimismus in Deutschland vorübergehend die höhern Kreise ge¬
wonnen hat, war teils Blasirtheit, teils die Selbstzersetzung nicht des Christen¬
tums, sondern der protestantischen Theologie. Der gemeine Mann aber bat
keine Lust, sich zum Pessimismus bekehren zu lassen, sondern will, sofern die
Negierung keine bessern Wege weiß, auf den Wegen der sozialdemokratischen,
antisemitischen und Partikularistischen Opposition Besserung schaffen oder, falls
das nicht gelingt, alles kurz und klein schlagen; diese Stimmung bekunden
augenblicklich u. a. die bairischen Bauern. In Schottland und England, wo der
Pessimismus sehr nahe läge, schätzt die ungemeine Härte und Widerstandskraft
des Gemüts davor, das unglaubliches zu ertragen vermag; etwaige pessi¬
mistische Anwandlungen pflegen sich hier wie in Spanien in Ausbrüchen des
religiösen Fanatismus zu entladen.

Von dem Vater des modernen Pessimismus ist es bekannt, daß er Me¬
lancholiker war, und die neuen Beitrüge zu seiner Lebensgeschichte, die Sche-
mcmn herausgegeben hat,") bestätigen es. Den Briefen seiner lebenslustigen



*) Schopenhauer-Briefe. Sammlung meist nngedrnckter oder schwer zugänglicher
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[0355] [Abbildung] Zur Naturgeschichte des Pessimismus le Pessimisten von Fach und Beruf legen sehr entschieden Ver¬ wahrung ein gegen die Vermutung, ihre Philosophie möge wohl mehr ihrem Temperament als ihrem Kopfe entstammen, und sie dringen auf die sorgfältige Unterscheidung ihres theoretischen von allem Stiinmungspcssimisinus. Wir aber behaupten, daß es andern als Temperaments- und Stimmungspessimismus gar nicht giebt, und daß die pessimistische Philosophie gerade so zur Rechtfertigung pessimistischer Stimmungen erfunden worden ist, wie die konstitutionelle Doktrin zur Recht¬ fertigung der Ansprüche des wohlhabenden Bürgertums und die römisch-katho¬ lische Lehre von der Kirche zur Rechtfertigung der Ansprüche des auf histo¬ rischem Wege gewordnen Papsttums. Pessimistische Anwandlungen haben auch einzelne griechische, italienische und französische Denker gehabt, aber nie¬ mals kommt bei einem heitern Volte der Pessimismus so zur Herrschaft, wie das bei den Indern geschehen ist und heute in andern Formen bei den Skan¬ dinaviern zu geschehen scheint. Der Wertherpessimismus ist die vorübergehende, aus bekannten Ursachen entspringende Jünglingsstimmnng. Was dem philo¬ sophischen Pessimismus in Deutschland vorübergehend die höhern Kreise ge¬ wonnen hat, war teils Blasirtheit, teils die Selbstzersetzung nicht des Christen¬ tums, sondern der protestantischen Theologie. Der gemeine Mann aber bat keine Lust, sich zum Pessimismus bekehren zu lassen, sondern will, sofern die Negierung keine bessern Wege weiß, auf den Wegen der sozialdemokratischen, antisemitischen und Partikularistischen Opposition Besserung schaffen oder, falls das nicht gelingt, alles kurz und klein schlagen; diese Stimmung bekunden augenblicklich u. a. die bairischen Bauern. In Schottland und England, wo der Pessimismus sehr nahe läge, schätzt die ungemeine Härte und Widerstandskraft des Gemüts davor, das unglaubliches zu ertragen vermag; etwaige pessi¬ mistische Anwandlungen pflegen sich hier wie in Spanien in Ausbrüchen des religiösen Fanatismus zu entladen. Von dem Vater des modernen Pessimismus ist es bekannt, daß er Me¬ lancholiker war, und die neuen Beitrüge zu seiner Lebensgeschichte, die Sche- mcmn herausgegeben hat,") bestätigen es. Den Briefen seiner lebenslustigen *) Schopenhauer-Briefe. Sammlung meist nngedrnckter oder schwer zugänglicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/355>, abgerufen am 06.05.2024.