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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Geschichte des Ltatsrats

Dem gebildeten Proletarier kommen mcilthnsianische Gedanken, wenn es sich
für ihn um Heirat und Ehe handelt. Sie beide, Mann und Weib, würden
sich wohl durchschlagen, ohne daß er seine Überzeugungen auf dem häuslichen
Herde zu opfern hätte, vielmehr konnte sie sein Trost und seine Freude werden,
indem sie getreulich seine Armut mit ihm teilte. Aber was soll aus den
Sprößlingen eines Proletariers gutes werden? Wer verpflichtet ihn, dafür
zu sorgen, daß das Getriebe der Welt zusammengehalten wird?

Er fragt: "Warum uns selbst erreur in armen Kindern, die man gleich uns
zeitlebens schert und meill?" Und: "Wer kann uns wehren, selbst uns zu
vernichten?" Ein andrer fragt:

Nicht als ob der Proletarier nicht ebensogut einer wahren, innigen Liebe
fähig wäre, wie die Bourgeois, deren Ehen so oft bloße Geldheiraten sind.
Aber ob er nun den ernsten Schritt thut und sich fürs Leben bindet, oder
nicht, er wird seiner Partei nicht untreu werden; der vermehrte Druck, der
auf ihn als einem Familienhaupte lastet, führt ihn denen zu, die "Befreiung"
versprechen. Wenn er das angeblich "freudlose Dasein" eines einsamen Jung¬
gesellen vorgezogen hat, hat er umsomehr die Möglichkeit, seinen "Mitbrüdern''
seine Zeit und Kraft zu widmen. Als Junggeselle kann er dem Staat erst
ordentlich zu schaffen machen, kann er offner unzufrieden sein, kann er "ziel¬
bewußt" wie ein Mann kämpfen:


Du, darbend Arbeitsvolk, allein
Sollst all mein Sein und Denken haben!

(Schluß folgt)




Die Geschichte des Gtatsrats
Lharlotte Niese von

is der Etatsrnt Peter Lauritzen sein Amt als Bürgermeister der
Stadt Osterburg niederlegen mußte, da beschloß er nach Holstein
zu ziehen. Dort, mitten im Lande und in der lieblichsten Ge¬
gend, lag das Städtchen, dessen Gymnasium er als Schüler be¬
sucht und wo es ihm immer so gut gefallen hatte. Er zog auch
deshalb hin, weil die Stadt nur wenige tausend Einwohner zählte, es also


Die Geschichte des Ltatsrats

Dem gebildeten Proletarier kommen mcilthnsianische Gedanken, wenn es sich
für ihn um Heirat und Ehe handelt. Sie beide, Mann und Weib, würden
sich wohl durchschlagen, ohne daß er seine Überzeugungen auf dem häuslichen
Herde zu opfern hätte, vielmehr konnte sie sein Trost und seine Freude werden,
indem sie getreulich seine Armut mit ihm teilte. Aber was soll aus den
Sprößlingen eines Proletariers gutes werden? Wer verpflichtet ihn, dafür
zu sorgen, daß das Getriebe der Welt zusammengehalten wird?

Er fragt: „Warum uns selbst erreur in armen Kindern, die man gleich uns
zeitlebens schert und meill?" Und: „Wer kann uns wehren, selbst uns zu
vernichten?" Ein andrer fragt:

Nicht als ob der Proletarier nicht ebensogut einer wahren, innigen Liebe
fähig wäre, wie die Bourgeois, deren Ehen so oft bloße Geldheiraten sind.
Aber ob er nun den ernsten Schritt thut und sich fürs Leben bindet, oder
nicht, er wird seiner Partei nicht untreu werden; der vermehrte Druck, der
auf ihn als einem Familienhaupte lastet, führt ihn denen zu, die „Befreiung"
versprechen. Wenn er das angeblich „freudlose Dasein" eines einsamen Jung¬
gesellen vorgezogen hat, hat er umsomehr die Möglichkeit, seinen „Mitbrüdern''
seine Zeit und Kraft zu widmen. Als Junggeselle kann er dem Staat erst
ordentlich zu schaffen machen, kann er offner unzufrieden sein, kann er „ziel¬
bewußt" wie ein Mann kämpfen:


Du, darbend Arbeitsvolk, allein
Sollst all mein Sein und Denken haben!

(Schluß folgt)




Die Geschichte des Gtatsrats
Lharlotte Niese von

is der Etatsrnt Peter Lauritzen sein Amt als Bürgermeister der
Stadt Osterburg niederlegen mußte, da beschloß er nach Holstein
zu ziehen. Dort, mitten im Lande und in der lieblichsten Ge¬
gend, lag das Städtchen, dessen Gymnasium er als Schüler be¬
sucht und wo es ihm immer so gut gefallen hatte. Er zog auch
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/45>, abgerufen am 06.05.2024.